DIE TERRASSEN DES
PHILOSOPHISCHEN GARTENS
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TAGTRAUMPFADE DURCH DAS ARCHIPEL BERLIN Skizzen Auf der Suche nach Berlin kommt der Reisende durch alle siebenundneunzig Ortsteile der Stadt. Er tut dies in der Hoffnung, im Laufe der Reisen die Gesuchte zu finden. Jede Reise wird mit einer datierten Skizze dokumentiert, die Augenblicke, Aspekte, Begegnungen festhalten mag und als Überschrift den Namen des Ortsteils trägt. Es geht um Wahrnehmenswürdigkeiten. Eine Bedingung für jede Skizze ist, daß der Reisende sich innerhalb des jeweiligen Ortsteiles aufhalten muß und sie aus der Begegnung mit dem Ortsteil entsteht; wohin er im Ortsteil den Fuß setzt, bleibt dem Zufall überlassen, der Laune, der Neugier, der Erschöpfung. Es sind traumwandlerische Unternehmungen. In der Begegnung mit der Stadt kommt jeder mehr oder weniger zu sich, kann jeder sich mehr oder weniger verloren gehen oder sich finden. Es sind Traumpfade, die nirgends angeschrieben sind und die flüchtig verwehen wie Träume und doch sind sie wirklich. Sie sind gleich wirklich wie Tagträume. Der Tagträumer findet immer aufs neue einen Traumpfad. Tagträume und Traumpfade vereinigen sich zu Tagtraumpfaden. Die Tagtraumpfade führen durch das Stadtinselmeer Berlin. Matthias C. Müller
WESTEND Am Fürstenbrunner Weg dösen die Kleinbetriebe am Sonntag morgen, Unfallgutachten, Burger, Shisha-Bars, Grieneisens Haus der Begegnung, Sarg-Discount Berolina Bestattungen, der Weg vom Tod ins Grab ist günstig. An den DRK-Kliniken vorbei, betrittst du den Luisenkirchhof III, ein stiller Raum nach den lärmenden Straßen, ein Friedhof im Windschatten. Teile einer zersägten uralten Eiche liegen auf der Wiese, als sollten sie noch beerdigt werden. An einer Aussichtsplattform liest du die Inschrift: „Der letzte ..., der überwunden wird, ist der Tod.“ Darunter hat jemand mit blauer Farbe geschrieben: „Nie wieder Krieg.“ Hinter der Plattform öffnet sich ein islamisches Gräberfeld, ein Mann von rund fünfzig Jahren trägt zwei gefüllte Gieskannen mutmaßlich zum Grab der Eltern. Die Gräber nach Mekka ausgerichtet. Die Kindergräber haben bunte Windräder, die Fröhlichkeit der Kinder im Zusammenspiel mit dem Wind: im quietschend wirbelnden Rad lebt sie auf, meinst du. Du kommst an ein Ehrenmal und liest: „Gedenkt der Opfer des osmanischen Genozids 1912 - 1922“. Auch Friedhöfe haben ihre Hinterhöfe, die Bauhöfe, wo Erde, Laub, Baumstämme, Grabplatten gelagert werden. Stauden noch und noch, Lilien - eine florale Üppigkeit, als du den Hang hinuntergehst. An einem Urnenfeld steht ein Steinkreuz mit einem Zitat von Goethe: „Es nimmt der Augenblick was Jahre geben.“ Es ist der Augenblick des Todes wohl, der Moment, der Leben von Totsein trennt. Ein Ehrengrab vom Land Berlin, schon auf der Gemarkung des sich anschließenden Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis- Friedhofs: John H.D. Rabe, Dora C. Rabe. Eine steinalte, gebeugte Dame mit Rollator läßt sich von der Taxifahrerin zu einem Grab begleiten. Am Eingang steht das Taxi, auf dessen Kotflügel Reklame für eine stadtbekannte „Wellnessoase“ gemacht wird, was hier freilich Puff meint. Was wohl die alte Dame denkt, wenn sie so reklamierend durch die Stadt kutschiert wird? Bei Blumen Dunata spricht die schöne Gärtnerin mit einer Blumenkäuferin. Der Gärtnerhof Charlottenburg am Fürstenbrunner Weg; Nummer 74 - 80 die Kolonie Tiefer Grund I, über die die Hochspannungsleitung führt. Ein Güterzug rumpelt. Die Rohrdammbrücke führt über die Spree. Mitten auf der Brücke endet Westend, und Siemensstadt beginnt. Die Spree-Erlen rauschen wie in einem Traum, unwirklich wirklich. Spree, hier will man dir lieben, so natürlich grün ziehst du deines Weges. Am Ufer blühen Seerosen. In der Ferne glänzt der Fernsehturm mit seiner Kugel. Du kommst durch die Kolonie Tiefer Grund II, die Polizei fährt mit einem VW-Bus Streife. Die Grundstücke laufen bis ans Ufer der Spree. Plötzlich prescht neben dir ein ICE vorbei, stadteinwärts. An der Gaststätte „Vogt's Tunnel-Eck“ trinkst du einen Sprudel. Eine Katze miaut. Ein Spreezubächlein, eingefaßt, murmelt idyllisch. In kurzer Zeit rasen drei ICEs hinter der Gaststätte vorüber. Über den verschlungenen Uferweg an der Spree gelangst du versehentlich in den Schloßpark Charlottenburg, und du fängst erneut am Spandauer Damm mit deiner Westend-Runde an. Jetzt erst fällt dir die Pagode auf, die derjenigen vom S-Bahnhof Mexiko-Platz ähnelt. Die hier ist ein aufgelassenes „Herren PP“. Du verirrst dich auf das Gelände des DRK-Klinikums, das weitläufig glänzt und auf dem Skulpturen wie gefroren stehen. Weiter gehts hinauf den Spandauer Damm, vorbei an Myriaden von Kleingärten, die alle hinab den Hang Richtung Spree hängen. Auf Schildern verteidigen sie ihre Existenz. Jetzt bist du oben auf dem hohen Plateau des Teltow. An der Bushaltestelle Meiningenallee hat eine Amsel ihre letzte Ruhe gefunden. Du wanderst in den Ruhwaldpark, der prächtig und Fragen aufwerfend leer ist. Ein Alter sitzt auf einer Bank, den Rollator neben sich. Eine Alte geht. Eine dreiköpfige Familie spielt auf dem Spielplatz, dir erscheint sie einsam. Von der Spree kommt ein einzelner Mann den Schlangenweg herauf, mit hängender Zunge, 12% Steigung. Dein Blick wandert über Spandau hinweg ins Havelland. Die alte Villa, einst eines reichen Industriellen privates Domizil, ist heute eine Kindertagesstätte. Über die Bolivarallee, die voller Platanen steht, gelangst du zum Steubenplatz in Neu-Westend. Die Reichsstraße kommt vom Theodor-Heuss-Platz her. Maniküren, Pediküren, Schönheitssalons, Juweliere und Bestattungshäuser, so weit das Auge reicht. Du betrittst das Wiener Cafehaus und trinkst eine große Flasche Vösslauer Wassers, nimmst einen flüssigen Teil Österreichs in dich auf. Die Portion Bandnudeln mit Pfifferlingen ist allerdings unbezwingbar groß, für gut und gerne zwei Leute; oder verlangt des gemeinen Westenders Bauch nach solchen Mengen? Das Cafe wird üblicherweise von den betagteren Bürgern des Westends besucht, heute aber sitzen einige tätowierte Fans der Dröhnrock-Kapelle „Rammstein“ bei Kaffee und Kuchen, aber bitte mit Sahne, hier, um sich für das abendliche Konzert im nahen Olympiastadion zu stärken. Auf einem Fan-Unterhemd steht auf der Vorderseite „Manche führen“ und auf der Rückseite: „Manche folgen“; und später siehst du, daß viele der Anhänger das gleiche Unterhemd tragen. Ob die wohl selber führen oder selber folgen? „Führer, befiehl, wir folgen“, soll da womöglich, bewußt ironisch, oder doch vielleicht unbewußt ernst, mit anklingen? Führen und folgen, an sich zwei dich ansprechende Zeitworte. Dein Leben sollst du ernsthaft führen, wie du auch dich selber von Herzen ernst nimmst. Und wenn du dich ernst nimmst, dann folgst du auch den von dir als vernünftig erkannten Gesetzen. Dein Müssen ist dein Wollen. Das Logo der Kapelle, auf jedem Unterhemd zu sehen, erinnert dich an das Hakenkreuz. Auch die feuerspeienden Elemente ihrer Bühnenshow erinnern, jenseits ihres kindischen Wesens, das ihnen in deinen Augen innewohnt, an eine faschistoide Ästhetik, und der mögliche Rückverweis auf das fatale Düsenjet-Unglück bei der Air Show in Ramstein 1988, mit Toten und Verletzten, ist ungut. Neben dich setzt sich eine fünfundvierzigjährige „Rammstein“-Konzertgängerin und verdrückt, dich anlächelnd, ihre Sahnetorte. Es ist ihr erstes „Rammstein“-Konzert, sie scheint selig. Über die Olympische Straße gehst du hinab und hinauf zum Stadion. Die Fans sind erstaunlich ruhig, fast traurig, im Schatten der Saumbäume liegend, anders als die grölenden Fußballfangruppen, die hier ansonsten Richtung Ostkurve ziehen. Eine jugendliche flachsblonde Frau sitzt im Rollstuhl. Es weht Wind, es ist warm, am Himmel ein Feld von vanilleeisgelben Cumuluswolken. An Pollern haben Flaschensammler große Tragetaschen von Rewe, Kaufland und Edeka mit der Schlaufe befestigt mit offenem Maul für die herantreibenden Pfandflaschen. Du schwimmst eine Runde im olympischen Schwimmbecken, dessen Tribünen derzeit von einem Renovierungsgerüst eingehaust sind. Vom Olympiastadion her weht der Sprechgesang des Kapellenführers bei der Tonprobe mit noch nicht voll aufgedrehten Boxen. Ein jugendlicher Kerl schlunzt vor dir ins Wasser und verwandelt es in eine Brühe, du ziehst es vor, das Becken zu verlassen; doch schlunzt schon der nächste vor dir auf den Boden und macht Boxbewegungen dazu. Die für die Sicherheit abgestellten Männer und auch die Bademeister scheinen es nicht zu sehen, obschon nahebei. Hier wirst du deines Lebens nicht froh. Schade um das schöne 50-m-Becken. Draußen auf dem Olympischen Platz hat der Einlaß begonnen. Eine Familie mit ihren sechs- und achtjährigen Kindern wandert hinein. Das Alter der Fans liegt in der Regel bei dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig Jahren. Die meisten tragen irgendwelche „Rammstein“-Unterhemden, und du rechnest hoch, wie viel man mit solchen Nebenprodukten doch verdienen kann. Neben paar ausländischen Vokalen aus Skandinavien und Frankreich hörst du allein deutsche Töne. Das Volk hier und das im Schwimmstadion scheinen nichts miteinander gemein zu haben. Schließlich hörst du auch österreichische und sogar hebräische Töne. Großeltern kommen mit ihren Enkeln. Ein Paar erscheint mit seinen Baby-Zwillingen - und dir ist, als täte sich hier der Schlund der Hölle auf. Du ziehst weiter durch das Sportforum-Gelände mit seinen leeren Sportanlagen, die in ihrem jetzt wie großzügigen Nichts auf dich einen dich befreienden Eindruck machen. Vorbei am Waldstadion und am Glockenturm. Unten in der Glockenturmstraße xy siehst du zwei alte Menschen auf dem Boden einer Einfahrt liegen, zwei, drei andere Menschen sind bei ihnen und helfen ihnen. Du trittst dazu, die Frau schreit wie am Spieß, während der Mann im eigenen Blut liegt. Man bittet dich, den Rettungswagen zu rufen, und noch ehe du am Telefon deinen Namen sagen kannst, fragt die Gegenseite: „Wo ist die Unfallstelle?“ und belehrt dich: Er stelle die Fragen, du sollest nur antworten. Weil die offenbar demente Frau panisch besorgt um ihren sie umsorgenden Mann ist, streichelst du sie und beruhigst sie und sagst, es sei nichts passiert und alles werde wieder gut. Offenbar ist der Mann gestolpert und hat die an seinem Arm geführte Frau mit sich heruntergerissen, während er mit seinem Kopf auf die Bordsteinkante zusteuerte. Die Haut der Frau ist glasig, sie wird über neunzig sein. Es dauert, bis der Krankenwagen kommt, zwanzig Minuten, schließlich biegt er unten aus der Heerstraße mit eingeschaltetem Blaulicht ein, hält dort aber an und fragt Passanten nach dem Weg, während du mit den Armen Halbkreise wischst und ihm winkst, er müsse noch ein paar hundert Meter fahren. In deinem Rücken stauen sich die Autos, bis schließlich der Wagen in die Einfahrt rollt. Die beiden Sanitäter steigen aus, und aus irgendeinem Grund beginnen die Sanitäterin und die Ersthelfer miteinander ukrainisch zu sprechen. Woher wußten sie, daß die Sanitäterin Ukrainerin ist? Eine alte Nachbarin kommt von der Havel hoch und erzählt in fröhlichem Hochallgäuerisch - so erschien es dir -, daß sie die beiden schon seit Jahrzehnten aus dem Segelclub kenne und daß die Frau ohne ihren Mann völlig „aufgschmissa wärr“. Weil der Mann bei dem Sturz auch seine künstliche Hüftpfanne womöglich beschädigt hat, muß er zur Überprüfung in die Klinik, und du sagst der alten Frau, daß sie jetzt mit ihrem Mann einen kleinen Ausflug in die Klinik machen dürfe und daß sie heute abend bestimmt gemeinsam wieder zuhause sein werden, du hoffst das jedenfalls, und ziehst weiter deines Weges, ziehst hinab zur Havel und grüßt sie in ihrem hier verschlungenen Bett mit ihren Seitenarmen und Seitenbuchten, grüßt den Stößchensee, und kehrst um zurück hinauf auf das Plateau des Teltow. Der seeglänzende Waldfriedhof Heerstraße idyllisch, etliche Ehrengräber hier, du grüßt Großcurth, grüßt Loriot, angeblich liegt hier auch Ringelnatz, aber du fürchtest, nicht mehr rechtzeitig hinauszugelangen, und ziehst lieber weiter, gehst in die Westend-Klause, Ringelnatz' Stammbierkneipe, und die ist dir doch lieber als das Grab. Plötzlich, Schlag 20 Uhr, umgreift dich ein markerschütterndes Dröhnen, hörst du einen Mordsknall, daß du fürchtest, die Welt gehe unter. Aber die anderen Gäste haben die Ruhe weg und reden fröhlich weiter. Beginnt jetzt etwa das Konzert? Das willst du näher wissen und gehst wieder die Olympische Straße hinunter zum Olympischen Platz. Tatsächlich, es ist das Konzert. Offenbar gehört die an Haut und Haaren spürbare Ton-Gewalt zum Geheimnis solcher Live-Konzerte. Während die Berliner Straßenreinigung Tausende von Plastikbechern zu großen Schneehaufen zusammenkehrt, haben außerhalb des Stadions kartenlose Konzertgänger Picknickdecken ausgebreitet und lauschen und singen mit. Die Sonne geht langsam unter, vom monotonen Dröhnen des Mannes an der Rampe untermalt. Der Blick reicht bis zur Bühne, an der Feuersäulen aufschießen. Schäfchenwolken ziehen rosa gen Westen, während du nach Osten dem Ende des Tages entgegen ziehst. 16.7.2023
WEDDING Nachmittags kommst du auf dem Urnenfriedhof Seestraße ans Mahnmal für die Opfer des Aufstands vom 17. Juni 1953 in der DDR. Du stehst an den Gräbern von elf in Berlin getöteten Demonstranten. Kränze der Staatsspitze wie auch einzelner Fraktionen wurden abgelegt. Die Bundestagsfraktion der Partei „Die Linke“ hat keinen Kranz ablegen lassen. Die Staats- und Stadtoberen waren gerade noch anwesend. Jetzt bauen die Veranstaltungstechniker schon wieder alles ab. Nahebei befindet sich das Denkmal zu Ehren der Opfer des Faschismus in aller Welt - „des Faschismus in aller Welt“: eine dir zumindest erklärungsbedürftig anmutende Formulierung; daneben liegt benutztes Spritzbesteck für eine harte Droge im Gras. Kaninchen wuseln. Ein orangefarbenes Wolkengebirge taucht am östlichen Horizont der Oudenarder Straße neben den ehemaligen Osram-Höfen auf, als hätten die ausgemusterten Glühbirnen dort ihren Himmel gefunden. Die Sonne kommt hervor, und das Pflaster dampft nach dem Regen. Es ist halb fünf. Ein im Landeanflug gen Schönefeld befindlicher Flieger dröhnt über dir nach Osten. „Zweitregen“ fällt, wenn ein Windstoß den in den Bäumen noch haftenden ersten Tropfenstoß löst und dich damit beehrt. „Gartenarbeitsschule Wedding“. Louise-Schroeder-Platz, Weite und Himmel, ein Paar, wie es im Wedding mit seinen breiten Avenuen oft zu sehen ist. An den Kopfseiten der Wohnhäuser der Seestraße stehen riesige Zitate aus den Dramen Schillers sowie seine ebenso große Unterschrift. Lieber Herr Medicus Schiller, im Wedding kann man Sie an den Wänden lesen und dabei gesunden. Hauswände als Reclam-Bändchen. Der Bootsverleih am Plötzensee hat ein Holzstegcafe, das von jüngeren Paaren, Männern vor allem, gut besucht ist. Ein Schwan startet vom Ufer los Richtung Seemitte. Musik dröhnt vom Strandbad herüber. Eine Stieleiche läßt sich nördlich des Sees bewundern. Die große Wiese ist verdorrt. Stadion Rehberge. Auf den Tennisplätzen des Berliner Tennisclubs Rot-Gold wird gespielt, und die Tennisbälle klacken. Das Freiluftkino Rehberge erinnert mit seinem gelb gestrichenen Eingangsgebäude an ein österreichisch-ungarisches Domizil der seligen oder auch nicht seligen kakanischen Époque. Gaststätte Schatulle, in dessen Schanigarten eingefallene Menschen stumm vor ihren wohl schon schalen Trinkgläsern schlafen. Im Sperlingsee quaken fordernd Frösche. Der benachbarte Möwensee hingegen ist still und sein Spiegel ist so glatt wie nur ein Spiegel glatt sein kann. Das Schild „Nachtigalplatz“ ist durchgestrichen, jetzt heißt er Manga-Bell-Platz. Die Statue of limitations, eine scheinbar aus dem Boden wachsende Skulptur, ein aus Bronze geformter Fahnenmast mit Trauerbeflaggung, deren untere Hälfte im Berliner Humboldt-Forum im Treppenhaus seinen Anfang nimmt, um hier, im sogenannten Afrikanischen Viertel, zu enden, errichtet im Jahr 2022 von Kang Sunkoo. Das Restaurant Zagreb am Rande erinnert an die spinnwebenalte Bundesrepublik, die hier noch im Rauchwind hustet. Ein geparktes Auto kommt dem Nummernschild nach aus Schwäbisch Gmünd, wo Peter Ustinov mit Weihwasser übergossen wurde, wie auch du, ohne vorher gefragt zu werden, was freilich nicht ging, da ihr beide Säuglinge ward, freilich nicht zur gleichen Zeit. Die rauchenden Rehberge mit ihren immerfort singenden Vögeln muten dir tropisch an. Die Rehbergewegbrücke, dich elegant überquerend, ehe du die Bronzeskulptur zweier nackter Ringer vor der großen abfallenden Wiese bewunderst. Das verfallene Parkcafe hat derzeit zu. Den Carl-Leid-Weg, benannt nach Carl Leid, während dessen Amtsführung der Park von 1921 bis 1933 angelegt wurde, tanzt du müde bis an sein Ende am Rathenau-Brunnen, Emil steht links und Walther rechts, doch es fließt kein Wasser. Das Rodelbahngras ist vergilbt. Du gehst weiter. Im nahen Goethepark wurde das Goethe-Denkmal beschmiert: Der gesprayte Text auf dem Stein lautet, sofern entzifferbar: „Fuck H[?] Cis-Men“. Auch wurde Goethes Gesicht mit weißer Farbe getüncht. Doch Goethe erwidert: „Mir ist nicht bange, daß Deutschland nicht eins werde, vor allem aber sei es eins in Liebe untereinander.“ Seine schwungvolle, in den Stein gemeißelte Unterschrift darunter folgt mit den beiden abgekürzten Vornamen: JWvGoethe. Er blickt aus dem Stein heraus wie aus einem Fenster, und das ist nicht unkomisch. Der Park ist sich selbst überlassen, verfällt vor sich hin. Im oberen, zugewucherten Teil liegt ein junger Mann friedlich-weggetreten auf einer zerbröckelnden Mauer, die schon halb zugewachsen ist. Es ist, als sollte er selber auch zuwachsen, einem männlichen Dornröschen gleich. Auf den Grasmatten des Rodelhängchens blitzt der Sand. Eine einsame Schöne liegt neben ihrem lindengrünen Rad in der Wiese, sich sonnend, und ihre Augen blitzen auf, als sie dich kommen sieht. „Junger Mann, welcher Weg führt dich zu mir? Willst du dich hier setzen zum Plaisir? Erfahren den Beleg, daß du lebst und webst? Im Park von Goethe erklinge dir die Zauberflöte. Komm her mein Schatz und finde deinen dir bestimmten Platz.“ 17.6.2023
CHARLOTTENBURG Dieses Mal mußt du nicht klettern am Eingang zum Schloßpark, das Tor an der Spreebrücke steht weit offen. Wann war nur dein letzter Besuch? „Vor Corona!“, diese Pandemiefurie, sie hat Jahre verschlungen und das, was vorher war, in fast graue Vorzeit entrückt. Es war Winter damals, eisige Nacht, Schnee glitzerte, Astrid Defauw und du, ihr klettert an der Spreebrücke über das verschlossene Tor in den Park. Unmittelbar das Aufatmen, als ihr drin seid, die Freude, auf den verschneiten Wegen alleine gemeinsam bis ins Nirgendwo zu gehen. Als ihr ans Ufer des zugefrorenen Sees kommt, geht ihr auf ihm weiter. Und als wäre es das naheliegende, beginnt ihr zu tanzen, bringt das Eis zum Singen. Nachtmusik, dämonisch, mit zum Zerreißen gespannten, aus der Unterwelt kommenden Tönen. Jetzt ist es ein brillanter Junivormittag, der Park im guten Sinn pflanzlich barock überladen, zugewachsen, verschlungen, die blühenden Holunder verwellen ihre süßlichen, aufreizenden Noten, die Brombeeren blühen, auf der Liegewiese baden die Nixen, in endlosem Tanz der Moleküle, dünnhäutig der Sonne ergeben, dem sie streichelnden Wind zugetan. Hoch im Himmel tanzen Cirren federleicht. Auf den enggewordenen Wegen, mit ihren hohen hereinhängenden, hereinwehenden Gräsern und den beladenen Zweigen, verlierst du dich, ehe du dich versiehst. Doch auf dem am Saum des Parks verlaufenden Weg, auf den du stößt, drehen keuchende, schwitzende Läufer ihre sonntägliche sportliche Runde, ohne je sich zu verlaufen. Lieber kehrst du zurück ins Innere des Parks, und da kommst du, am Ende eines dunklen Tannengangs, zum Mausoleum, und du gehst geradewegs hinein und bist erstaunt, es sei dies nicht nur ein museales Gebäude, sondern es hätten hier wirklich einstige bekrönte Herrscher ihre letzte Ruhe gefunden. Die unvermutete Nähe zu Gebeinen einstiger lebender Menschen rührt dich durchaus. Aber daß du hier dem einstigen ersten deutschen Kaiser so nahe bist, läßt dich merkwürdig kalt. Sollte dein Gefühl repräsentativ sein, hieße das wohl, es sei die Verbindung des Volkes zu seinen einstigen herrschenden Häusern gekappt, ohne Bedauern, wenn sie denn je bestanden hat. Ein Diederich Heßling, Hauptfigur in Heinrich Manns Roman „Der Untertan“, ist in der Form heute nicht mehr denkbar oder zumindest nicht im Hinblick auf jenes einst regierende Haus. Du stehst lange ungläubig an Christian Daniel Rauchs Skulptur der jung verstorbenen Königin Luise, die „ruhend“ tot daliegt und frühlingsgleich weibliche Sinnlichkeit ausstrahlt, elegant geschmeidig. Ihren wie hingegossenen Überwurf und die sich darunter abzeichnenden figuralen Formen, mit den scheinbar durch den weißen Stoff hindurchschimmernden Brüsten, hat Rauch in dezent filigraner Anmut aus dem Marmor gehoben. Du verläßt den kalten Raum und gehst weiter, dich in der Hitze aufzuwärmen. Auf einem eingezäunten Stück Wiese haben sich Schafe unter fünf Schatten spendenden Bäumen versammelt. Ein Schäfer erklärt einer Gruppe junger Familien, wie seine Hunde Judy und Jenny die Herde zusammenhalten können, ehe sie auf die Weide gehen, und Judy bekommt die Aufgabe, die Schafe alle heranzutreiben. Sie flitzt durchs hohe Gras und umkreist und umgrenzt die Tiere, die alle eiligst zum Schäfer preschen und sich dort um ihn und seine menschliche Herde versammeln. Wenn im Christentum die Rede geht, der Pastor, der Hirte, kümmere sich um das Seelenheil der ihm anvertrauten Gläubigen, seiner „Schäfchen“, mag hier, auf der Weide, die Frage naheliegen, ob er auch Schäferhunde hatte oder gerne hätte? Suchten nicht die Inquisitoren, gleich Schäferhunden, jene scheinbar herätisch sich von der Herde absondernden Schafe wieder auf den richtigen Weg zu zwingen? Und gibt es nicht auch in einem säkularen Staat bellende Hunde und sonstige Schnüffelnasen, die sich um jene kümmern, die scheinbar die Grundordnung der gesellschaftlichen Herde zu verlassen drohen? Der Schäfer und seine Assistentin verteilen an die Kinder Knäckebrot, das sie an die Schafe verfüttern dürfen. Haben sie keines mehr, sollen sie die Hände in die Luft strecken, damit die Schafe sehen, hier sei nichts mehr zu holen. Gleichwohl bedrängen einzelne Schafe auch die knäckebrotlosen Kinder, und ein Mädchen schreit wie am Spieß aus Furcht vor einem es bedrängenden Schaf, „Mama!“, und es versucht, sich zwischen den Beinen der Angerufenen zu vergraben, und diese errettet es durch Hochheben und sucht, es zu beruhigen. Lämmer erkennen angeblich ihre Mütter durch die Stimme und durch den Geruch. Das ewige Mähen. Daher kommt, wird dir bewußt, offenbar der Ausdruck für das Rasenmähen. Wenn der Mensch den Rasen mäht, setzt er den maschinellen Ersatz für das Schaf ein. Mährobotor sind Robotorschafe. Schere man das Fell des Muttertiers, fehle ihm der Geruch, und das Lamm brauche ein, zwei Stunden, bis es die Mutter wiedererschnuppere. Die Kinder dürfen ein paar Muttertieren das Fell vorsichtig abkämmen und die so gewonnene Wolle mit nach Hause nehmen. Auf dem Weißen Berg sonnt sich ein Mann nackt und liest ein Buch. Von der gewölbten Brücke nahe dem Belvedere ist der Blick zum Schloß heiter. Am Westufer des Sees blühen rosa und weiße Seerosen. Wilder Weizen wächst am Ufer, im Winde wehend. Blaue Libellen fliegen. Butterblumen blühen. Cumuluswolken bilden sich. Touristen gehen in Zeitlupe in der Hitze. Eine junge Frau im weißen Kleid, mit langen, offenen, roten Haaren, läßt sich am Fließufer photographieren und hat die Hoffnung im Blick. Gleichzeitig findet, auf der südlichen Seite des Schlosses, auf der auf das Schloß zulaufenden Schloßstraße, ein Kunsthandwerkmarkt statt, dessen gepflegte Verkäuferinnen jenseits der Fünfzig in der mittlerweile brennenden Hitze zerknittert die Contenance zu wahren suchen, indessen der Gehweg von Linden klebrig ist. Es ist, als sollte alles zum Stillstand kommen, und du kehrst lieber zurück in den Schloßpark und legst dich nahe dem Ufer des Sees ins Gras und träumst von einem Tanz über das Eis und von einem Singen, das aus den schattierenden Weiden tönt. 11.6.2023
FRANZÖSISCH BUCHHOLZ Warten auf Erleuchtung in Französisch Buchholz, denkst du, als dir in Französisch Buchholz nichts dich bewegendes in den Sinn kommen will. Es ist, als hätte dieses alte, in deinen Augen versunkene Dorf, mit seinem Anger, seiner Hängebuche, der Hugenottenplastik, der stolzen Kirche, dem gelben Kossätenhof und mit der Restauration Zum Eisernen Gustav und deren Gastgarten, in dem eine Kutsche steht, Gegenstand von Spinnennetzen, dich ruhiggestellt. Das ist dir schon auf dem Friedhof so gegangen, wo du dem Geheimnis der Hugenotten wenigstens auf den Grabsteinen auf die Schliche kommen wolltest. Kaum betratest du den Knochenacker, war dir friedlich zumute. In Französisch Buchholz atmet eine Gelassenheit, die sich auf dich überträgt. Warum überhaupt den Friedhof verlassen? Leere Wiesenstücke zwischen den Gräbern, violett blühende Rhododendrenbüsche, fünf oder sechs, weit voneinander verteilte Angehörige, die nach außen schweigend als Gärtner der Erinnerung, des Andenkens an ihre Lieben, dir erscheinen, vertiefen nur die dich beruhigende Stimmung. Die Vögel tirilieren entspannt, kein aufgekratztes Zwitschern. Auf den Wegen bilden Ameisen kleine Sandhäufchen, in deren Öffnungen sie verschwinden und aus denen sie hervorkommen, geschäftig wie sechsbeinige Charlie Chaplins. Auch der Name von Erdmute Grün, vor hundert Jahren geboren, vor vierzehn verstorben, mutet dir entspannt, fast fröhlich an. Von den Windmühlen ist nur mehr die Mühlenstraße übrig, während dienstags von 16 bis 17 Uhr im Evangelischen Gemeindehaus die „Kirchenmäuse“ umhertollen, von zwei bis sechs Jahren, ohne je arm zu werden. Von einem Schild herunter spricht eine höchste Stimme die Autofahrer der Hauptstraße an: „Ich halte dich. -Gott“. Ein großer Findling im Anger liegt da wie der versteinerte Zeuge einer Zeit, in der das Suchen noch nicht erfunden war. Ein paar stattliche Gebäude in der Hauptstraße künden von einem Alter des Prosperierens, „erbaut 1867“, „erbaut 1876“. Schadow hatte 1790 bis 1802 hier Wohnhaus und Besitzungen. Im aufgelassenen Hof von Nummer 41 wachsen im hohen Gras des Vorgartens blaßgelbe und lila Orchideen und rote Rosen. Opel Kramm verkauft nicht nur Opel, sondern auch Cadillacs und Dodge-Ram-Riesen mit offener Ladefläche, auf der man zwei, drei „Trabis“, die sozialistischen Kraftwagen-Trabanten, spielend abstellen könnte. An der Kirche und am Gasthaus haben sie in den Fünfzigern Aspekte des Films „Der eiserne Gustav“ mit Heinz Rühmann in Szene gesetzt. Der Gustav war der Kutscher, der aus Protest gegen das Aufkommen von motorisierten Droschken von Wannsee nach Paris fuhr, selber aber nie in Französisch Buchholz war. Gustav Theodor Andreas Hartmann, wie der gute Mann hieß, geboren am 4. Juni 1859 in Magdeburg, gelangte vom 2. April bis 4. Juni 1928 mit seiner Kutsche, gezogen vom Wallach „Grasmus“, an sein freilich vergebliches Ziel und wurde so, als Protestant, zu einer europäischen Berühmtheit. Im Garten ist es noch still, eine Festtafel wird abgeräumt, ansonsten kehren zwei Großeltern mit ihrer Enkelin von Rügen zurück und klagen, wie viel losgewesen sei, im Gegensatz zu hier, Französisch Buchholz; ein Pärchen, Mann und Frau, beide tätowiert, sitzt still am Rande. Nachher stehen die beiden auf und entpuppen sich als Mitarbeiter des Hauses. Zwei betagte Elektroradlerinnen setzen sich mitsamt Helmen in die pralle Sonne und knöpfen sich mit kräftigen Schlücken große Radler vor. Und dann ist da noch einer, an der Wand des Hauses, auch in der prallen Sonne, schwarze Hose, schwarzes Unterhemd, ein blaues Jäckchen, die halblangen, grauen Haare zurückgekämmt, auf dem Gesicht eine Sonnenbrille, dem Typ nach ein Walter Sittler, groß und schlank, sitzt lächelnd da, auf dem Tisch ein Bier im Steingutkrug. Dich wundert, daß er nicht platzt in dieser ihn ungehindert anknallenden Sonne, aber erfreust dich an seiner weltgewandten, eleganten Dämonie, die er ausstrahlt, und als du wieder von den Notizen aufblickst, ist er vom Erdboden verschluckt, von den Luft-Photonen aufgelöst und verstrahlt. Gegenüber dem großen, weitläufigen Platz, der freilich kein Platz ist, aber auf dich wie ein solcher wirkt und über den sogar die Hauptstraße mit ihrem hier allerdings dich aufmunternden Verkehr verläuft, wartet das Ki-Dojo auf Unterricht in asiatischen Künsten. Indes ist die Kirchturmuhr stehengeblieben; was sie anzeigt, ist die Ewigkeit, die kein Laufen kennt. Alle zehn Minuten biegt die Tram Nummer 50 über den Platz Richtung Virchow-Klinikum im Westen einerseits und Richtung Guyotstraße andererseits. Es ist heiß, die Linden vor der Kirche rauschen. Ameisen flitzen die Stützbalken der Gastgarten-Pergola hinauf und hinunter, und dir ist schleierhaft, was diese Tiere wissen, warum sie wie mit letzter, doch unversieglicher Kraft die Balken hinauf- und hinuntereilen, mit dem inneren Kompaß, der ihnen den Sinn verrät. An einen Vierertisch setzen sich vier Buchholzer, zwei Männer, zwei Frauen, rauchen, und die Damen sind vorzeitig gealtert. Ein Zimmermann parkiert seinen schicken Mercedes-Sportwagen vor dem Garten und umarmt beim Hereinkommen den langjährigen Ober. Wartend auf Erleuchtung, beleuchtet die mittlerweile tief gesunkene Sonne dich so sehr, daß du dich aufmachst, ihren Fängen zu entgehen. Neben dem Haus Nummer 19 flirrt eine verwaiste, prächtige Eiche, die auch schon jene Genossen der DDR-, der Nazi-, der Weimarer republikanischen und der monarchischen Preußen-Zeit hier gesehen haben müssen, in unterschiedlichen Größen, und auf der Fensterbank innen sitzen zwei Perserkatzen, die hinauswollen und sehnsüchtig die Bewegungen auf der Straße beobachten. Sie sind gefangen, man läßt sie nicht aus der Herrschaft des Muschi-Regimes entkommen. Schöneres Leben verspricht der Seniorenpark Bismarck gegenüber, über dessen menschenleeren Rasen allein ein Mähroboter seine Runden zieht. Ein steinummauertes Bassin wirft Rätsel auf, es ist kein Aquarium, kein Pool, es ist lediglich ein Wasserbecken, das durch Schönheit glänzt und in ihr seinen Himmel findet. 26.5.2023
HEINERSDORF Im Paradies, der Vorhalle vom „Kaufland“ in der Romain-Rolland-Straße, schweben die Kunden vom unterirdischen Parkdeck herauf, die Einkaufswagen vor sich. Beim Bäcker sitzen Philemon und Baucis am Cafetisch, geschafft nach dem langen Gang durch die Windungen der Warenwelt, den vollgepackten Wagen neben sich, und laben sich am trockenen Stück Zwetschgenkuchen und schlürfen eine Tasse versahnten Filterkaffees. Es scheint, als könnte dieser Moment der Höhepunkt ihres Tages sein: gemeinsam bei Kaffee und Kuchen beisammen sitzen und froh sein, einander noch zu haben, die Lebensmittel neben sich. Im verglasten Reisebüro nebenan sitzt ein weiteres Pärchen und bucht vielleicht den Pauschalurlaub auf die paradiesische Insel, denn ob es nach dem Tod noch ins Paradies kommt, glaubt es unter Umständen nicht, dann lieber zu Lebzeiten das Paradies auf Erden. Du verläßt das „Kaufland“, des Volkes wahrer Himmel, und gehst entlang der Romain-Rolland-Straße in Richtung der früheren Mitte, als Krug und Kirche noch nicht vom Verkehr überrollt wurden. In der Alten Feuerwache, im Haus Ingrid, residiert die Tagespflege. Gegenüber steht ein verlassenes, verfallendes Haus. Zwanzig Meter weiter kommt noch ein solches, gleichfalls ansprechendes Juwel, dieses aber ist eingerüstet und wird restauriert. Ein drittes auf der rechten Seite, Haus Nr. 52, verfällt gleichfalls, auf seiner Treppe wächst ein im Wind raschelndes Birkchen, und die blaue Farbe des Türblatts blättert ab. Überm Eingang ist ein großes M angebracht. Am Haus daneben ist ein altes Schild befestigt, auf dem „Kirchenkasse“ steht. Du gehst in den verlassenen Hof und bewunderst eine uralte Linde. Alles scheint verlassen, verfallen. Doch das Ensemble Nr. 53 ist eingerüstet. Im Hof von Nr. 54 siehst du überm Eingang des Portals einen die Flügel ausbreitenden Engel und den Ruf „Hosianna“. Neben der Kirche der „Wiesenfriedhof“, alles ist zugewachsen, ungepflegt, ein Eisenkreuz ist abgebrochen, es steht nur noch die untere Hälfte, du liest die Worte „Ruhe sanft.“. Der Friedhof auf der anderen Kirchenseite ist jedoch gepflegt, eine Tafel-Ausstellung informiert über die Geschichte des Dorfs, und eine Holzbank lädt zum Ausruhen ein, wenn du auch hier schon des Verkehrs wegen kaum deine Ruhe weghaben könntest. Am Cafe „Friedrich & Fritz“ räumt die Betreiberin gerade Stühle und Tische zusammen und hält mit den Nachbarn, einer jungen Familie, feierabendlichen Schnack. „Ciao, Franzi, dir noch 'n schönen Abend!“ - „Danke, euch auch!“ Die Mitglieder des Motorradclubs „Born to be wild“ haben offenbar den zivilisierenden Erziehungsprozeß boykottiert und bleiben lieber Rasende auf zweirädrigen Geschossen. Weiße Pfeile an den Hauswänden weisen den Weg zum nächsten Bunker, so am Haus Nr. 96, die sind ein Überbleibsel vom Zweiten Weltkrieg, aber womöglich bald wieder zu gebrauchen, jedenfalls sieht man diese Pfeile jetzt nicht mehr als historisches Überbleibsel an, sondern als möglicherweise bald wieder aktuelle Notwendigkeit. Die Einschußlöcher der Rotarmisten aus den letzten Kriegstagen sind sichtbar geflickt. Der Briefkasten wird täglich um 16 Uhr geleert. Die Freiwillige Feuerwache nimmt Kinder und Jugendliche auf. Im Nachbarschaftshaus „Alte Apotheke“ schwingen ältere Damen den Aquarellierpinsel und schweigen. Die Tram M2 hat da ihre Endhaltestelle, und die Wendeschleife umrundet eine Wiese, auf der sich das Volk, das bürgerliche wie das christliche, versammelt, so auch an Christi Himmelfahrt übermorgen. Die Bäckerei „Brotschmiede“ hat noch geöffnet und wartet auf Kunden. Auf dem Friedhof lächelt zwischen den Bäumen die Kapelle. An der Anlage mit Gräbern für Kriegsopfer liest du, wie viele Heinersdorfer in den letzten Kriegstagen, jung und mitten im Leben stehend, kurz vor der Kapitulation noch Opfer der „Kampfhandlungen“ wurden, während in der Stadtmitte in seinem Bunker der „Führer“ seine letzten, finsteren Tage verbrachte, ehe er sich der Verantwortung entzog. Du gehst durch stille Seitenstraßen, in denen der Flieder blüht. An einem Laternenpfahl hängt noch ein nach der letzten Wahl vergessenes Plakat der Partei „die Basis“ mit der in den luftleeren Raum gestellten These: „Auf den Zusammenhalt kommt es an“. Es kann freilich falschen oder fatalen Zusammenhalt geben, schon deswegen ist die Aussage sinnlos. Es kommt immer auf die Art des Zusammenhalts an. Wenn in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges irgendwelche „fanatischen“ Werwölfchen noch „zusammenhielten“, so war dies lediglich Zeugnis des Nichtwahrhabenwollens dessen, was die Stunde geschlagen hat. Zurück in der Blankenburger Straße erweckt eine Mischung aus kleinen Wohnhäusern, Läden und Werkstätten die Anmutung von Gerümpel. Am Asia-Imbiß hängt ein Pappkarton, auf dem jemand mit Hand in Schönschrift die Autofahrer darauf hinweist: „Achtung! / keine Durchfahrt / Per sonnen verkehr“. Und du findest, daß jetzt in der abendlich warmen Sonne bei dem weiten Himmel mit Haufenwolken und einzelnen Schichtwolken und dem warmen Wind es hier wahrlich einen Sonnenverkehr gebe, und es sei selbstverständlich, dieser solle nicht gestört werden. Aus dem Heinersdorfer Krug ist mittlerweile die Trattoria Toscana geworden, ohne daß sich landschaftlich hier etwas getan hätte. Das historische „Spritzenhaus“ neben der Kirche. Auch die Kirche ist ein Spritzenhaus, in ihm löscht Gott die Flammen des Zweifels, des endlichen Lebens, allein mit dem guten Wort aus dem Mund des Priesters. Um 18 Uhr läuten die Kirchenglocken. Gegenüber, an der Ecke zur Tino-Schwierzina-Straße, hat ein Wohnungsentrümpler sein zentrales Geschäft. Vom Aida-Park aus betrachtest du den quadratischen, 46 Meter hohen, nie benutzten, zerschossenen Wasserturm, ein Denkmal und Mahnmal, er beherbergte am Ende des Krieges noch eine Flakstellung, an den Wänden sieht man etliche sowjetische Einschußlöcher und größere Wunden. Ganz oben, unterhalb des Geländers, an der schmalen Brüstung, wächst eine Birke. Ein Mädchen spielt alleine auf dem Gehsteig und malt etwas, Kinder sind die van Goghs der Gehsteige. An der Trambahnhalte Am Steinberg steht der Circus Kunterbunt, und in Circussen finden die lustig geschminkten van Goghs ihr trauriges Auskommen. Was wäre ein van Gogh anderes als ein Mensch, der in einem Meer von Farben baden geht und, für eine Weile wenigstens, gesundet? 16.5.2023
WEISSENSEE Die Kastanienallee wölbt sich überweltlich im gedämpften Sonnenschein des späten Mittags. Du wanderst über den Campo Santo der Hebräer, ein Ur-Laubwald, und nicht nur stehn betagte Bäume links und rechts des Wegs; es schießen gleichfalls neue, junge Bäumchen mitten auf den Gräbern hoch. Rehe fänden Äsung hier. Gepflegt wird nichts. Die Steine fallen dem Vergessen stumm anheim, verfallen auch, zerbröckeln. Die umgestürzte Eiche liegt quer auf einem Dutzend Gräbern. Und weiter gehst du, tiefer hinein, und kommst sodann, unvermutet, zu Feldern mit neu geschliffnen, glatten, schmucken Gräbern. Die Schrift auf den Steinen ist oft kyrillisch, die Verstorbenen wanderten, vermutest du, nach Verfall des Sowjet-Paradieses in den Westen aus; da erscheint hinter einem Grab ein Fuchs, der erschrickt, und im Davonstürmen stürzt er fast in das frisch ausgehobne Grab. Um siebzehn Uhr wird die Totenstadt im Wald verschlossen, und du bist weit gegangen, beeilst dich nun, den Weg hinaus zu finden: Du willst nicht eingeschlossen sein, hast kein Begehr, über Zehntausenden Skeletten zu verweilen. Aber die Orientierung hast du verloren. Anders als Hänsel, hast du den Weg nicht mit Bröckchen Brot gezeichnet. Kein Schild weist dich zum Ausgang. Als du, nach langem Hin und Her, den Eingang, mit den blühenden japanischen Kirschen, doch erreichst, findest du die Tür bereits verschlossen. Du betätigst wiederholt die Klinke, vergebens, die Tür bleibt im Schloß. Da hörst du den eilend kieselnden Schritt: noch jemand. Eine Gretel taucht auf. Zugleich erscheint am Pförtnerhäuschen der Pförtner selbst und fragt: „Wer rüttelt an meiner Tür?“, zumindest scheints dir so, er richtete und dichtete diese Worte rhetorisch an dich. Sei dem, wie dem wolle, er ist noch da. Ein Glück! Behend und betend scheints schließt ers Gittertörchen auf und läßt die erleichtert frohen Wiedergänger von Hänsel und Gretel in die Freiheit ziehen, in die Stadt der Lebenden. Strebte der Mensch im Mittelalter abends von der Arbeit auf dem Felde vor der Stadt noch vor dem Schließen des Tores zurück in die Stadt, so möchtest du jetzt vor dem Schließen des Tors der Totenstadt hinaus treten in die Stadt der Lebenden. Friedhöfe lagen doch nicht selten vor der Stadt; die Städte der Lebenden und die der Toten waren getrennt. Beide umgab eine Mauer. Beide hatten wenigstens ein Tor. Und doch waren sie zweierlei. In der Stadt der Lebenden führen die Menschen mit jeder neuen Generation von der Jugend bis ins Alter ihr Leben und erhalten es eben am Leben. Die der Toten hingegen läßt die in ihr aufgenommnen Bürger für immer bleiben. Als Lebender hast du aber in der Totenstadt nichts zu suchen; in ihr hast du bestenfalls etwas zu finden. Aber was? Ein Grab? Eine Erkenntnis? Ja, auch eine solche; zum Beispiel die: Wo du dich aufhältst, mußt du den Weg kennen, den Ausweg. Lebkuchenhäuschen Milchhäuschen. Da landest du. In ihm, dem Milchhäuschen am Ufer des Weißen Sees, möchtest du dich laben nach der Rückkehr aus jener Welt. Doch hat es heute geschlossen. Schade, doch über solche unscheinbaren Widerfahrnisse fährst du gleichgültig hinweg. Ein Zettel am Eingang sagt, die Pächter suchten nach Personal. Es ist dies noch eine Folge der Instrumente zur Eindämmung der Pandemie. An den uferweglichen Laternenpfosten informieren Plakate die Passanten über eine scheinbare Selbstverständlichkeit: „Natürlich braucht die Natur Regeln“. Gemäß Kant ist das Genie jenes Talent, „welches der Kunst die Regeln gibt“, beziehungsweise jene Gemütsanlage, „durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt“ (Kritik der reinen Urteilskraft, Paragraph 46), hier aber geht es nicht um Kunst, sondern um Natur. Die Natur ist nur natürlich oder kann sich nur entfalten, wenn der Mensch sich an die Regeln hält, welche die Grünanlagenpfleger-Genies als die angemessenen erachten. Indes hat die Blindenwohnstätte Weißensee Wohnungen, die den Blick zum Weißen See eröffnen. Im Garten hat der Weg ein ununterbrochenes Geländer, mit dessen Hilfe die Blinden spazieren gehen können. Ein Haus, in dem 1949 Brecht und Weigel wohnten, sieht aus, als verfiele es, doch ist es bewohnt, wer weiß von wem. Gegenüber die Dorfkirche mit der alten Eiche und der alten Kastanie. Neben ihr steht das Mausoleum von Pistorius, aber nicht dem deutschen, quicklebendigen Verteidigungsminister, sondern dem durch Branntweinproduktion reich gewordenen einstigen Brennapparat-Erfinder und Käufer des Weißenseeschen Gutes. Am Rathaus Weißensee verläßt du die Berliner Allee und gehst lieber die Liebermannstraße und dann die Parkstraße hinunter, ehe du in der Pistoriusstraße zum Primo-Levi-Gymnasium kommst. An dessen Front haben Schüler zwei Tücher gehängt, mit der Parole: STOP WAR. Vor dem „Frei-Zeit-Haus“ am Kreuzpfuhl erinnert ein Stein an den „Antifaschisten“ Erich Boltze, der im „KZ“ Sachsenhausen umgekommen ist. Sein Wohnhaus befindet sich nahebei Richtung Mirbachplatz. An diesem lockt die Eisdiele „Eisspatz“ die Kinder an, und die Schwäbische Bäckerei nebenan bietet ihre mutmaßlich schwäbischen Backwaren feil. Daneben befindet sich Nadja Cocozzas Bestattungshaus „Engel“. Du aber machst kehrt und gehst die Max-Steinke-Straße Richtung Antonplatz hinauf und kommst an dem verträumten Häuschen vorbei, in dem die Geigerin Frau Glocke unterm Dach einst wohnte und wo in der Küche das Weinlaub zum Fenster herein schaute, während sie dir den Espresso kochte. Sie wollte mit dir im Kino am Antonplatz noch mal den Film „Gundermann“ anschauen, aber ihr habt es dann verpaßt, wie man im Leben immer vieles verpaßt. Im Kino läuft gerade kein dich ansprechender Film, und so gehst du durch die lange, dich französisch anmutende Langhansstraße, nur um dann an der kurzen Scharnweberstraße zu verwurzeln, denn die läßt dich so den Blick aufschlagen, daß du erst nicht weitergehen kannst. Es handelt sich bei ihr um eine Allee aus japanischen Kirschen, blühend und die Blüten bereits in den Wind werfend, deren Zweige oben fast zusammenwachsen und so ein Blütengewölbe bilden, unter dem zu wandeln einem Hochzeitspaar gut anstünde. Doch die Braut, mit der du jetzt hier schreiten könntest, glänzt noch in Abwesenheit. Du gibst das Wurzeldasein auf und gehst weiter, über die Gustav-Adolf-Straße zur „Brotfabrik“, diesem holzhellen Gasthaus mit den leinwandgroßen Fenstern, durch die jetzt die Abendsonne fällt. Ihr Licht füllt den Raum und läßt ihn geradezu schweben. Mit dem schwebenden Raum schwebst auch du, Raum und du, ihr Zwei, seid schwebend eins, Du-Raum und Raum-Du, ineinander verschwebend jetzt, für den ewigen Augen-Blick. 2.5.2023
BLANKENFELDE Es ist, als wollten die Feldsteine dir wohl in ihrer geschichteten Wärme, übereinander, nebeneinander, den Kirchenbau bildend, hier, auf dem blanken Felde des hohen Barnim. Feldstein-Gewand, Feldstein-Zelt, Feldstein-Schiff für die Gemeinde, in seiner Hut, seinem Sie-Behüten, im Innern, wie unter Deck, sich zu versammeln für die Fahrt durch die Zeit in die Ewigkeit. Ringsum der Totenacker, der Friedhof, auf dem die vom Schiff bereits gefallenen in der Ewigkeit ruhen. Zum Beispiel trittst du ans Grab der Gertrud Kleingeist, eine heute vor 114 Jahren geborene geborene Neuendorf. „Der Herr hats gegeben der Herr hats genommen der Name des Herrn sei gelobt“, aber wie lautet sein zu lobender Name? Ewigkeit? Alles, was aus der Ewigkeit in die Zeit kommt, hat seine Zeit, die vorübergeht, die gezählt ist. Nach dem Countdown kehrt es zurück in die Ewigkeit. Daneben, an der Mauer, befindet sich ein Urnengemeinschaftsgrab, mit der Überschrift „Gemeinsam statt einsam“. Ist das nicht schon kindisch, unfreiwillig komisch, wird es zudem grotesk, da in ihm bislang nur ein Mensch begraben ruht, Ruth Mahlke. Im wärmsten, belebendsten Südwind schwankt eine grapefruitorangenfarbene Plastikgießkanne am Gieskannenständer und boxt immer wieder an die Stange. Du könntest ewig hier auf der Mauer sitzen und dich diesem unübertrefflich glanzvollen Frühlingstag aussetzen. Aber obwohl du die Ruhe weghast, treibt dich eine dir unerreichbare innere Unruhe irgendwann doch weiter. Der Gemeine Löwenzahn und die Purpurrote Taubnessel blühen in Hülle und Fülle. Familie Warmbier schläft in ihrem Grubenfaß. Die Eheleute Sommerfeld ruhen unweit der Familie Weixelbaum. Ein gepflegtes Grab, mit Kreuz aus Holz, erinnert an einen Unbekannten Soldaten. Plötzlich, wie aus dem Nichts, trittst du an dein eigenes Grab. Zeitgleich erschrickst du und empfindest doch ein dich erhebendes, beruhigendes Gefühl. Es stimmt dich geradezu froh, ein so schönes Grab zu haben und zu sehen, alles sei in Ordnung. Nach dem Moment der Verwechslung begreifst du, es sei nicht dein Grab, wenngleich du deinen Namen liest und der Verstorbene das Geburtsjahr mit dir gemeinsam hat. Aber nur dieses. Der scheinbare Doppelgänger ist 1993 in die Grube gefahren, im Wonnemonat Mai, 22 Jahre jung. Du verläßt nun den Friedhof und gehst die Hauptstraße, westwärts, weiter, vorbei an Platanengrundschule, Schwalbennest und einem DDR-schlammgrauen Feuerwehrhaus. Etliche, aus Ziegelsteinen erbaute, einst landwirtschaftliche Höfe öffnen sich, heute schweigen da Autos, wartend auf Reparatur, oder wiehern Pferde in ihren Boxen. Auf dem Kopfsteinpflaster der Straße trommeln die von Lübars her hier durchs Dorf fahrenden Pkws. Der Friseursalon Sabine Stein wirkt auf dich wie die Versteinerung einer längst abgeschnittenen Epoche. Die Magnolienblüten blättern ab, und die Tulpen blühen auf. Am Dorfrand ein Pferdehof mit einem Dutzend frei umherspazierender Pferde, die Wind und Sonne mutmaßlich genießen. Auch Pferde werden den Frühlingswind schätzen, schätzt du. Außerhalb des Dorfs führt ein abzweigender Weg nach Süden an blühenden Kirschen entlang, und der Blick wandert bis zur Kirche von Rosenthal. Weiter entfernt und weiter östlich taucht im blauen Dunst der Fernsehturm auf, der aus der Ferne auf dich stets ein Gefühl des Vertrauten erweckt, des fast Heimat Stiftenden. Du gehst nach Westen weiter und überquerst die Gleise der Heidekrautbahn. Da steht das stattliche Bahnhofsgebäude, heute privat vermietet zum Wohnen. Die Bahn fährt hier nur mehr an Museumstagen. Entlang gehst du an einem Acker, ein Traktorist sät und eggt, und im Mittelgrund fliegt ein roter Pfeildrachen hoch in den Lüften. Du gehst an einer Reihe von freilich schon Blätter tragenden blühenden Weißdornen entlang und liest das Schild, das an das ehemalige, hier befindliche „Krankensammellager“ für „Ostarbeiter“ während der Zeit der Nazi-Herrschaft erinnert. Eine junge, anmutige Radlerin fährt heran, tritt in die Bremsen und fragt, ob sie dir helfen könne, und du wunderst dich über ihren Eindruck, dir sei noch zu helfen. Auf dem ehemaligen Grenzstreifen ist mittlerweile ein Wald gewachsen und erinnert gewollt oder ungewollt an dessen einstigen Verlauf. Wo früher die unpassierbare Grenze war und wo heute die Bahnhofstraße in die Blankenfelder Chaussee übergeht, erinnert, oder würdigt, jetzt halb versteckt im Gebüsch ein Stein an den hier erfolgten „mutigen Grenzdurchbruch am 8. Juni 1990 - ausgeführt von Helmut Qualitz und der Freiwilligen Feuerwehr“. Ein Durchbruch, der einem Pyrrhussieg gleichkommen sollte, denn die Lübarser und die Blankenfelder sind nun den Peitschenschlägen des Durchgangsverkehrs ausgesetzt. An der Kreuzung der Bahnhofstraße mit dem ehemaligen Patrouillenweg der Grenzsoldaten hat sich heute ein Treffplatz für Boliden- und Motorfans etabliert. Zwei beleibte vierzigjährige Männer mit Heavy-Metal-T-Shirts haben es sich auf Campingstühlen bequem gemacht und reparieren ihre Motorroller. An einem überdachten Rastplatz gegenüber hat sich ein junges, arabisches Pärchen niedergelassen, das bodenlange Gewand der Frau ist purpurrot, und sie küßt ihren Jeans tragenden Burschen wie wild, sie feiern heute das Zuckerfest, und sie mag dem ihren als das wahre Zuckerstück erscheinen. Neben dem Rastplatz liegt Unrat, der die beiden aber, in ihrer Zuckerwelt verfangen, nicht zu stören scheint. Nordwärts gehts weiter den steilen Berg hinab ins Tal des Tegeler Fließes. Unter dem Warnschild „Gehwegschäden“ liest du, zum ersten Mal, das Schild „Radwegschäden“. Am Köppchensee, dem ehemaligen Torfstich, krötet eine Erdkröte vor sich hin. Eine Reiherente schwimmt gelassen über den windgeriffelten See. Das Röhricht raschelt. Eine Brücke führt dich über das Tegeler Fließ, und am Wegrand halten drei Frauen einen Schnack, während sie an Seilen ihre nebenher grasenden Pferde halten. Ein Mädchen reitet auf dem Rücken ihres Vaters, der klagend ruft: „Du brauchst mich nicht anzutreiben, ich lauf auch so, ich bin doch kein Büffelpferd!“ Umdrehend siehst du am Wegrand eine etwa ein Meter lange Ringelnatter, die sich im Nu ins Gehölz verkriecht. Und nach wenigen Schritten weiter siehst du noch eine davonblitzen. Das Gehölz ächzt, und die Elektroradler donnern an dir vorbei. Eine Frau in Sportkleidung zischt den Berg herunter und hinterläßt den Duft ihres aufgetragenen Parfüms. Eine feuerrote Mauerbiene nistet im leeren Gehäuse einer Schnecke. Zitronenfalter umflattern dich. Am östlichen, erhöhten Ende des Köppchensees, der Sonne gegenüber, siehst du den im Ostwind jetzt goldgetäfelten Spiegel und fühlst dich flüchtig zeitlos schweben. Ein Fischotter taucht auf und kreist dicht unter der Oberfläche. Schlehenbäume blühen. Du gehst über die Heidekrautbahnbrücke südwärts zurück Richtung Dorf, und im Osten taucht der kahle, heute unbesuchte Bauschuttberg Arkenberge auf, auf dem Modellflieger ansonsten ihre Flugzeuge fliegen lassen. Über einen Weg voller blühender Kirschen und begleitet vom Gesang der Feldlerchen gelangst du zum Dorf. An seinem Rand liegen große Rohre in der Wiese, und die Dörflerin, der du begegnest, weiß nicht, warum die da liegen und wofür. Du gehst die Schildower Straße hinab, und ein junger Feuerwehrmann rennt in Montur an dir vorüber Richtung Wache. Der Briefkasten wird täglich um 13.30 Uhr geleert. Eine ältere Sonnenbrillenfrau in Leggings und mit High Heels erinnert dich mit ihrem Unterkiefer an Klaus Kinski, und als sie die beiden Enkel in den gelben Mercedes-Flitzer eingeladen hat, braust sie mit zurückgedrehtem Fahrersitz auf der staubigen Straße davon. Du überquerst die B 96a und gelangst so in den östlichen Teil der Hauptstraße. Den „Graben 33 Blankenfelde“ grüßt du, dessen Wasser den Nordgrabenfluß mit speist. Im Reiterhof Neuendorf klagt unzufrieden wiehernd ein Schimmel in seiner Box, er will raus, nichts wie raus. Wie gepflegt, anmutig, einladend, zum Teil fast großbürgerlich es in diesem Teil der Straße plötzlich ist. Alte Schmiede, Schützenhaus Patzenhof, Schießsportanlage, ein Kunsthof. In diesem steht eine abstrakte, an Knochen erinnernde Großplastik, auf deren oberen Bogen sich ein winziges Buchenbäumchen niedergelassen hat, das nun winzige Blätter hervortreibt. Du Bäumchen, hättest du dir keinen geeigneteren Grund zum Leben suchen können? Zwei Löschfahrzeuge rollen dröhnend an dir vorbei gen Osten, und im ersten sitzt vorn in der Mitte das Weltenkind, der junge Feuerwehrmann von vorhin. Im Westen sinkt die Sonne brennend ihrem täglichen Erlöschen entgegen. 21.4.2023
WANNSEE So gehst du hin in stiller Gegenwart am südlichen Ufer des Pohlesees im Wald. Die Sonne schleiert durch die Wolken, und Wind ruft Rillen auf dem See hervor, als wäre er in deiner Phantasie eine leiernde Platte, die vom sich lösenden Zug der Zeit ein Lied zum besten gibt. Ein dahergelaufener Hund stellt sich neben dich und blickt mit hechelndem Lächeln dich erwartungsvoll an. Willst du mit mir gehen? Sein Frauchen spaziert ins Gespräch vertieft mit einer Freundin hinterrücks vorbei, und er setzt sich hin, als würde er wie du dem Liebesspiel der Enten auf dem See ein Auge schenken. Die Stimme der Herrin ruft, aber er guckt nur dich an, als wartete er auf ein Zeichen, um mit fliegenden Fahnen überzulaufen in sein neues Zuhause. Aber dann ruft die Herrin lauter, kommt gar zurück, und nun muß er ziehen, der Hund, und aus dem Augenwinkel wirft er dir einen Gruß oder einen Vorwurf zu. Schade, scheint sein Blick zu sagen, daß du mich nicht mitgenommen, ich hätte dir treu gedient. Wir, ein Team. Doch schon kommt der nächste Hund, der stehenbleibt neben dir, und du siehst dahinter schon wieder einen kommen, jeweils in Begleitung der Gebieter. Du machst selber kehrt, es scheint dich heute das Volk der Hunde als Flucht- und Zielpunkt auserkoren. Von der Alsenbrücke blickst du auf das jetzt in der Sonne matt glitzernde Wasser des Stölpchensee, und vom Ufer siehst du den anmutigen Hang des Dorfes Stolpe mit seinen gereihten Häusern und der dezent im Hang plazierten Kirche. Am Alten Schulhaus hängt ein Zettel der Mittwochsgruppe: „Nach langer Pause...“ - pandemiemaßnahmenbedingt - „trifft sich wieder die Mittwochsgruppe...“ Ein davor über den Zaun gehängtes Plakat der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg- Schlesische Oberlausitz sagt: „Selig sind, die Frieden stiften“. Aber wie stiftet man den Frieden? Sind die Seligen nicht die, die gestorben sind? Die Toten sind das Friedensvolk, unterirdisch versammelt und wachsend. Der Friedhof ist der Friedenshof, die Toten die Höflinge am Hof des Friedens. An der Kirche hat sich ein Paar gefunden, ein Efeu hat sich seit mehr als hundert Jahren, so stehts da, „einem Spitzahorn verbunden“. Neben der Kirche wird bei „Yoga Wannsee“ das Ganzsein des Menschen trainiert. Im Garten klettern die Kinder ins Baumhaus. Am Wilhelmplatz steht eine uralte Eiche, Wahrzeichen des Dorfs. Das Gasthaus zum grünen Baum lädt zu süddeutscher Küche und Meckatzer Bier. Aber dich verdrießen die an der Tür oben fest angebrachten Logos von Bewertungsplattformen im Netz, wo bei katholischen Häusern der Segenswunsch der Sternsinger mit Kreide geschrieben steht. Es ist als sollte hier der Segen dank guter Gästebewertungen erfolgen. Bleibt mir gestohlen. Im Cafe Aux Delices Normandes räumt die Verkäuferin die Gebäcke zusammen, sie schließt um 16h. Unweit der Musikschule Wannsee hat ein Restaurant für immer geschlossen: „Liebe Gäste, wir danken Ihnen für die vielen schönen Jahre und verabschieden uns in die wohlverdiente Rente. Machen Sie es gut. Arrivederci Ihr Ristorante Salina“. „Buch in Wannsee“ träumt sonntäglich mit offenen Augen vor sich hin. Auch das Kinderhaus Wannsee hat heute frei. Der Kunst- und Weinladen glänzt mit Stille. Am Stadion Wannsee steht auf einem Schild: „Achtung Wildschweine! Türen schließen“. Im Hof des Cafes „Mutter Fourage“ sind die Sonnenplätze besetzt, und als du draußen an der Bundesstraße 1 stehst, siehst du einen Meilenstein, der dir sagt: „III Meilen von Berlin“. In der katholischen St. Michaelkirche hat der düstere, dir geradezu Angst einjagende Eingangsbereich geöffnet. Regale ächzen unter ihrer Bücherlast, und darüber, daß niemand sie will, nicht mal kostenlos. Und neben einer Madonna flackern drei Opferkerzen auf einem Treppenkerzen-Tableau. Trotz des sonntäglichen Ausflüglerverkehrs weht von gegenüber, vom über und über blühenden Weißdorn ein dich umwerfender Duft. Und während du dich wieder aufrappelst und du dich fragst, ob wohl das alte Biogemüsepaar noch lebt, das vor lange verflossener Zeit auf dem Steglitzer Wochenmarkt auf dem Hermann-Ehlers-Platz einen Stand betrieb, dann aber plötzlich verschwunden war, und von dem du nur wußtest, es lebe in Wannsee, geht es plötzlich an dir vorbei. Es ist so überraschend, obwohl du an sie gedacht, und ein so großer Zufall, daß du, wie vom Donner gerührt, den Moment nicht ergreifen und es ansprechen und fragen kannst, wie es ihm gehe. Aber du siehst doch, es geht ihm wie eh und je, und es geht offenbar immer noch gemeinsam durchs Leben. Oder willst du hinterhereilen und die beiden ansprechen? Da kommt der Bus angefahren, und wie ein Hund zwischen zwei Leberwürsten, kannst du dich nicht entscheiden; doch als neben dir der Fahrer die Tür öffnet, mußt du wohl nolens volens wie der Hund, dem die Haustür aufgemacht wird, freudig jaulend hineinjagen. Glauben, loben, lieben - die drei sinds, worin du dich wiederfindest. Du glaubst an das Gute, in einem nicht-religiösen Sinn, daß es sich durchsetzen wird, wenn auch vielleicht erst in sehr später Zeit. Wer glaubt, der lobt, und wer glaubt, der liebt. Alles geht sich ein und aus. Frühling ist, und die Menschen blühen auf. So zieht des Lebens Glanz vor deinem Aug vorüber, das Leben ein Ball, ein Tanz, und statt des Ärgers findest du die Freude lieber. 26.03.2023
ROSENTHAL Weit und breit ist nichts zu sehn von einem Tal mit Rosen, aber sicher doch wären in einem von dir noch nicht entdeckten, in einem versteckten Garten einer freundlichen Familie Rosen zu finden, wenn sie auch jetzt freilich noch nicht blühten; aber ein Tal, ein buchstäbliches, findest du hier wahrlich nicht. Gigantenlastwagen rauschen an dir vorbei, der du eingeklemmt auf dem schmalen Bürgersteig des Wilhelmsruher Damms nahe der Hauptstraße an bezäunter Hecke erzitterst vor der fahrenden Felswand neben dir, ohne Fluchtmöglichkeit. Wer tilgt die unsichtbaren Kosten für das logistische Getriebe? Die Hauptstraße bringt von Wilhelmsruh das verheerende Lastenverkehrsheer her. Das rumpelt und dröhnt über die Dorfangerpflasterstraße. In der Mitte die hohe, stolze Kirche von anno Domini 1230. Kleinbetriebe haben sich hier angesiedelt in den aufgelassenen, verlassenen, wie fluchtartig verlassenen Höfen, von Zeitungen und Supermarkt- Reklamezetteln verstopfte Briefkästen zeugen von den Aussiedlungen. KFZ-Reparaturbetriebe sind jetzt da. Und Opel Hinz preist seine Elektroautos an: „Die Zukunft liegt im Blitz.“ Auch wenn die These auf das Markenlogo von Opel und auf das Naturphänomen des Blitzes anspielt, bei dem elektrische Ströme fließen wie auch im Elektroauto, wenn auch da gebändigt, scheint es dir, als läge zwischen Hinz und Heraklit nur ein Schritt. Dieser sang: „Der Blitz steuert alles.“ So schlösse sich jüngste Gegenwart an die älteste an, und der jetzt säkularisierte Heilsgott heißt Strom. Die Offenbarungen Gottes zeigen sich in den Elektroautos. Und so, wie Lübars das Pferdedorf ist, so Rosenthal das der Pferdestärken auf vier Rädern. Doch der Blitz ist auch die Erkenntnis. Im Dunkel jener Nacht, in der der Mensch auch bei Tag gehüllt vor sich hin schläft, hat die blitzartige Erkenntnis ungeahnte Folgen: Was er erkennt, ist die ihn umgebende, in grellstes Licht getauchte wirkliche Landschaft, von der er zuvor nichts geahnt. Er sieht, wo er wirklich ist, was es mit ihm auf sich hat hier, in diesem fremden Land. Wer vom Blitz heimgesucht wird, der erkennt, er war bisher in einer scheinbaren Heimat zuhause. Der Blitz, die Erkenntnis, läßt ihn erst jene Heimstätte sehen, nach der er sich fortan sehnen, die er suchen und finden möchte. Nur der Blitz steuert dich auf deinem Weg in die andere Heimat, in jene Sphäre, die du wirklich bist. Und die ehemaligen Bauernhäuser und Gutshöfe locken nach hinten hinaus mit weitläufigen Gärten, Scheunen, einer versunkenen Welt. Die uralte, mächtige Eiche, vollhängend mit letztjährigem Laub, ragt an der Hauptstraße auf, ein Riese, vor dem der Verkehr über die Schönhauser zur Bundesstraße 96a abtaucht. Baggerlärm umhüllt dich, Bauarbeiter erneuern die Abwasserdruckleitung und das Trinkwassernetz, ohne Wasser kein biologisches und kein zivil-bürgerliches Leben. Das Cafe Zur alten Backstube hat sonntags von 13 bis 17 Uhr geöffnet. Ein Plakat ruft: „Kein Schwerlastverkehr durch Wohngebiete!“ Du siehst Wencke's Haarschneiderei, und die Post wird täglich um 14 Uhr geleert, so stehts am Briefkasten. Die Evangelische Gemeinde verspricht: „Musik löst den Staub des Alltags von der Seele“ und lädt zum gemeinsamen Chorsingen ein. Der neue Aldi-Supermarkt scheint in der Tradition der Formensprache von Mies van der Rohe zu stehen, wenn auch in dunkelroten Backsteinen, der Bau erinnert dich an die Villa Tugendhat in Brünn, in dem vor dem Krieg jenes Kind Ernst lebte, das später zum Philosophen heranwuchs und vor drei Tagen dreiundneunzigjährig in Freiburg die Reise in die Ewige Freiheit angetreten hat. Nebenan bietet der Irem-Imbißstand vegetarische Currywurst an, ein Mann sitzt bierlos auf der Bierbank davor und vertieft sich in den „Tagesspiegel“. Auf dem nahen Spielplatz Friedrich-Engels-Straße Ecke Hauptstraße schaukelt eine Jugendliche besinnungslos, dem Absturz nah. Es ist 13.55 Uhr. Dittmann's Gasthof, seit 1892 am Ort, hat noch zu. Am Nordgrabenweg siehst du ein Gewässer, das dir als kanalisierter Fluß erscheint. Im Angerweg Ecke Debussystraße kommst du an einem zugewucherten Garten mit Garagen vorbei. In der César-Franck-Straße Ecke Andanteweg hält dich eine riesige Pfützenlache auf, ideal für das Volk der Spatzen. Am Bratvogelweg Ecke Kastanienallee verlassen die Grundschüler das Schulgebäude. Du kommst durch die Straße An der Priesterkoppel und hörst in der Straße 140 den Nordgrabenfluß rauschen, in einer steil abfallenden Waldschlucht. Er springt über die im Wasser liegenden Felssteine. Der Blick geht zurück durch Gärten zum jetzt fern im Norden liegenden Kirchturm der Dorfkirche. Im Gebirgskräuterweg siehst du auf dem rechten Ufer des Nordgrabenflusses einen drei Meter hohen Wasserfall aus dem Zingergraben stürzen. Auch auf der linken Seite erscheint ein Fließgraben. Am Frauenmantelweg Ecke Gebirgskräuterweg hat sich die Schlucht weiter vertieft. Stromschnellen lassen den Nordgrabenfluß geradezu gebirgsflußähnlich rauschen. Eine hohe Brücke auf Stelzen führt darüber, und die im Westen stehende Sonne glänzt auf dem Wasser, es ist 16.21 Uhr. Du läßt einen Stein in die Tiefe fallen. Weiter ziehend passierst du den Jugendstil-Kirchsaal in der Kirchstraße, wie fast überall triffst du auch hier nur auf verschlossene Kirchentüren. Im Döbrabergweg zeigt eine Reihenhaussiedlung grüne Holzläden, und in der Schönhauser Straße 42 hat eine Villa im italienischen Stil einen Aussichtsturm. In der Kastanienstraße 104A weht in einem Garten eine Fahne mit dem gelb-blauen Wappen von Hiddensee, vielleicht ein solidarischer Gruß an die Flagge der Ukraine? Und der vielfach vom Verkehr gebrochene Asphalt flattert, wenn die Autos darüber rollen. Es hört sich an, als würde ein Schwarm Schwäne auf dem Wasser flügelschlagend die Flucht ergreifen. 16.3.2023
WILHELMSRUH Als die Mittagsstunde naht, wanderst du auf dem Weg von Osten her zum Wilhelmsruher See. Du nimmst ein Sonnenbad. Der See ist, wie es offen sichtlich ist, Anlauf-, Höhe- und Zielpunkt für Nachbarn, Mütter mit Kindern und jenen, die die Mittagsfreude hinaus in die Sonne ans Ufer winkt. Hier sonnen sie sich in der Sonne, ehe sie sich besinnen und weiter ihrer Wege ziehen. Am See kommt Wilhelmsruh zur Ruh, kommt es ganz zu sich. Am See ist Wilhelmsruh Wilhelmsruh. Gegenteilig dagegen erscheints dir in der Unruh der Chaussee, Hauptstraße genannt. Durch sie geht unablässig Luft verstaubender, schwere Lasten schleppender Verkehr, der das Leben dir vermiest, solange du da weilst. Er zerschneidet, verlärmt, zergast das Dorf. Löste er sich in Luft auf, könnten die Wilhelmsruher die Ruhe weghaben und in aller Ruhe von Geschäft zu Geschäft bummeln. Einige der Hiesigen nehmen die Situation nicht hin und geben, wie sie sagen, keine Ruh, was ihre Proteste dagegen betrifft. Sie versuchen dabei auch, nicht allein verkehrsärmeres Leben in die Ortsteilbude zu bringen. Zum Beispiel haben sie die von der Stadt aufgegebene Bibliothek ehrenamtlich in der von der Post verlassenen Post für die Einwohner selber wieder eröffnet und veranstalten mit Pauken und Trompeten Lesungen und Liederabende. Andere haben in einer aufgelassenen Fleischerei einen Dorfladen für bioregionale Waren gegründet. Auch zwei Dorfcafes rühren rührig die Rührschüssel und backen Kuchen und verhätscheln die hiesigen Leckermäuler und die dem Naschen zugeneigten Katzen. Und Herr Förtsch, der große Schlanke mit der rosa Baseballmütze, betreibt im Buchladen ein Antiquariat. Sein Steckenbär sind vergriffene Bücher über Berlin, doch Werkausgaben der Klassiker hat er auch bis unter die Decke zur Hand. Die wichtigen Seitenstraßen sind auch nach solchen benannt, Lessing, Goethe, Schiller und Uhland schütteln sich hier die Hände und werden vom Schnauzbartrealisten Fontane in einer Kreisbogenstraße begrüßt. Am Hauptplatz neben der Hauptstraße, zwischen Goethe und Schiller und vor dem Gotteshaus, erinnert ein Gedenkstein an die „Opfer des Faschismus“. Du glaubst, die heutigen Wilhelmsruher seien wenn nicht Opfer, so doch Leidtragende einer anderen Form von geißelnder Mobilmachung. Sie kämpfen gleichwohl unverdrossen weiter gegen die Windmühlen des weltumrollenden Verkehrs. Der versteckte Garibalditeich, abseits der Hauptstraße, weiter im Westen, jenseits der Goethestraße, ist spiegelglatt, Bäume und Schilf spiegeln sich im Spiegel. Ein Jugendlicher spielt Korbball. Eine junge Mutter mit Kinderwagen sitzt auf einer Sonnenbank und schweigt. Auch hier ist Wilhelmsruh ganz bei sich. Dank des Bahndamms der musealen Heidekrautbahn ist die Ecke vor Verkehr und vor Blicken geschützt. Es ist, als wäre das Ende der Welt erreicht. Um wieder nach Hause zu kommen, mußt du umkehren. Dreh dich um, und wäre es nur auf der Stelle. Du wirst eine andere Welt gewahren als die, die du jetzt siehst. Nimm Rück-Sicht und geh weiter bis ans andere Ende der Welt. 28.2.2023
NEU-HOHENSCHÖNHAUSEN Du willst aus einer Laune heraus dir in Neu-Hohenschönhausen die Haare schneiden lassen. In seiner geographischen Form erinnert der Ortsteil dich an ein vierblätteriges Kleeblatt. Die Falkenberger Chaussee und die Eisenbahnstrecke teilen ihn in vier Bereiche. Das erste, was du siehst, als du von der Falkenberger Chaussee in die Zingster Straße zum Linden-Einkaufstempel gehst, sind Zehntausende Kaugummis, die fest auf dem Pflaster kleben. So viele ausgelutschte Kaugummis hast du noch nie gesehen. Die Kaugummi-Industrie hat hier ihre treuesten Kunden, an den Neu-Hohenschönhausern wird sie nicht zugrunde gehen. Vor dem Eingang in den Tempel fangen Bettler die Passanten ab, ihr Herantreten und das bogenförmige Ausweichen der Angebettelten erscheint dir als abgestimmte Choreographie, als hätten sie sich zu einem Tanz verabredet. In Einkaufszentren hältst du dich nicht gerne auf, weil du den Himmel nicht sehen und den Wind nicht fühlen kannst, doch heute, angesichts der draußen waltenden Kälte, stimmt die Wärme dich milde, und wie du in den Cafes ältere Damen in Rüschchenblusen bei Kaffee und Kuchen plaudern siehst, verstehst du, hier sei für sie die Stadtmitte, sei ihr Städtchen, wo sie unter die Leute gehen und andere treffen. Die werden es in den „Lockdown“-Zeiten der Corona-Pandemie nicht leicht gehabt haben in ihren Wohnungen in den Hochhäusern, ohne einander öffentlich sorgenfrei zum Schwatzen treffen zu dürfen. Jetzt sitzen sie da, ganz Gegenwart, und die Pandemie ist Geschichte. In einem Schweizer Frisurenstudio fragst du nach dem Preis für einen Schnitt und bist überrascht von der Antwort und ziehst erst einmal weiter, siebenunddreißig Euro scheinen nicht wenig zu sein, und jeder Schnitt ist bekanntlich nicht für die Ewigkeit. Du ziehst wieder hinaus in die Zingster Straße, während die Bibliothek Anna Seghers herübergrüßt. Am Wegrand im Gras sitzt ein Vietnamese in der Hocke, es scheint, als täte er das gerne, einfach so, ohne erkennbaren Grund, ein Tag muß schließlich vorübergehen. An einer Ladenzeile triffst du auf den Salon Heidi, wo das Schneiden günstiger, dafür freilich kein Platz frei ist. In der Schwimmhalle ziehen Schwimmschüler ihre Bahnen, und davor sitzen Männer auf Bänken und reden nicht viel. Gegenüber in der Barther Straße 3 erinnert eine Gedenktafel indirekt an den saarländischen Dachdeckerlehrling, der 1984 den Grundstein für die ganze Siedlung hier gelegt hat. Streubel & Cornet betreiben nebenan ein kleines Pavillon-Cafe, in dem ein Gast sich Kaffee und Hörnchen schmecken läßt. Der Prerower Platz, die Mitte des Viertels, spricht dich in seiner großen Leere an. Nichts ist da, niemand, aber jetzt, da du drübergehst, ist doch jemand da. Auf einem Parkplatz neben der Falkenberger Chaussee ist ein Zirkus aufgebaut, aber du siehst und hörst niemanden, er wirkt wie ausgestorben. Auf der Brücke der Chaussee über den Gleisen siehst du einen Zug nach Templin einfahren, pendelnde Schüler steigen aus, und junge Damen steigen ein. Du gehst weiter und holst im Laden des Bäckerei-Werksverkaufs Streubel & Cornet einen Kaffee und ein Hörnchen, inspiriert von dem einsamen Mann im Zingster Straße-Pavillon. Die strenge Verkäuferin pumpt dir den Kaffee aus einer bereitgestellten Thermoskanne in einen Plastikbecher und reicht dir das trockene Hörnchen. Nebenan steht die neue Falkenberger Kirche, die nicht in Falkenberg steht, sondern eben hier, im Nachbarortsteil, in Falkenberg erinnert auf dem Friedhof nur mehr die Kriegs-Sprengruine an die alte. Du umkreist die neue ein Mal rundum, als würdest du ihr so die Ehre erweisen. Drüben am Warnitzer Bogen sprichst du im Vandell-Studio vor. Die filigrane Friseurin, Tabitha, erwartet bald eine Stammkundin, aber nach kurzem Überlegen, mit Blick auf die Uhr, sagt sie: „Das schaffe ich!“ und bittet dich, Platz zu nehmen. Ihre Stirn ist rundgewölbt, ihr Haar grün und blau gefärbt, und Metallstifte und Ringe durchbohren Mund, Nase und Ohren. Anschließend wanderst du, frisch verjüngt, den Bogen mit seiner Ladenzeile weiter. Bäcker Feihl bietet seine Waren feil. Die Schuldnerberatung läuft. Die Fleischgrillgerichte eines Imbisses finden Absatz. Am Quartierspark spielen Kinder. Und du gehst die Vincent-van-Gogh-Straße hinunter, und die Friseurin in ihrer filigranen Art geht dir nach und läßt dich lächeln. Die Sonne steht tief. In der Straße Zu den Krugwiesen sitzt eine Gesellschaft für Oberflächenbearbeitungstechnologie. Die produzieren Diamantwerkzeuge, Maschinen zum Schleifen, Läppen und Polieren und Systeme für Präzisionsoptik. Ihre Produkte haben es, wie die Berliner Woche schreibt, bis auf die ISS geschafft. Auch Schreiben ist eine Form von Oberflächenbearbeitungstechnologie, scheint dir. Nagelneue Wohnbauten in der Seehausener Straße lassen dich Bauklötze staunen. Das einstige Neue von Neu-Hohenschönhausen wird alt, und neues neues kommt nach. Das ist der Lauf der Welt, auch bei Häusern. Vorm Penny halten schwergewichtige Raucher, mit Bier an die fahrradlosen Fahrradständer gelehnt, ihre Konferenz über Gott und die Welt ab. „Liebe Eltern, wie Ihnen bereits bekanntgegeben, bleibt unsere Kita heute geschlossen“, liest du in der Warnitzer Straße an der Tür einer Kindertagesstätte. Und an der Pablo-Picasso-Straße steht auf einem Meilenstein: „1 Meile bis Berlin“. Am Rotkamp, wieder westlich der Eisenbahn, im Quartier Mühlengrund, findest du weitere ansprechende Wohnungsneubauten, mit Holzwänden, du befühlst die Wand, und eine Latte tränt Harz. Wohnungen haben Balkone wie Aussichtsplattformen über Schluchten. Radständer warten auf zukünftige Räder. Die Sonne geht unter, und an der Falkenberger Chaussee kniet ein Moslem am Grassteifenrand hinter einer Werbetafel auf seiner ausgelegten Jacke und betet. Er verfehlt, deiner Meinung nach, die Richtung nach Mekka. 23.2.2023
LANKWITZ Hoher Nachmittag, und am Himmel häuten sich die Wolken. Du biegst an den Aral-Zapfsäulen von der Kaiser-Wilhelm-Straße in die Straße Alt-Lankwitz ein, wie heute die einstige Dorfstraße heißt. So entkommst du den pausenlos Ohrlaschen austeilenden Auto- und Lastwagenkaskaden, wie auch den dich blendenden, nach dem Krieg in der Not bescheiden errichteten Wohnburgen. Die Straße teilt sich, um das Auge des Dorfs, den Anger, hütend zu umschließen. In ihrer Anmut läßt die Anlage den Blick ruhig und frei schweifen. Nach wenigen Schritten aber rührt dich der abzweigende Langkofelweg, katapultiert dich en passant aus dem Urstromtal hinauf in die Dolomiten. Dein Vater und seine Busenfreunde wedelten einst auf Skier durch die Langkofelscharte zwischen herausstehenden Felsen zu Tal; am Abend, geschafft, mit schmerzenden Beinen, bekamen sie in der Trattoria in Canazei, beziehungsweise „Kann-net-sei“, wie sie das Tal-Kaff auf schwäbisch nannten, erwünschteste Spaghetti serviert. Vom Langkofel schreitest du geradewegs über die Wiese gen Dorfkirche, die bei einem der verheerendsten Luftangriffe der Alliierten in der Nacht vom 23. zum 24. August 1943 zerbombt und nach dem Krieg in den fünfziger Jahren wiedererrichtet wurde. Auf der Wiese umkleidet ein schmiedeeiserner Schmuckzaun eine Eiche, während auf dem Weg vor der Friedhofsmauer verkleidete Kinder ziehen, ihre Mütter und Großmütter im Schlepptau. Sie feiern heut Fastnacht, ehe morgen, für praktizierende Christen und solche Menschen, die den Anlaß aufgreifen, die Fastenzeit beginnt, Wochen der Reinigung, der Reparatur, der Verjüngung, des Fegefeuers auch der seelischen Fettzellen, bis an Ostern, mit den bemalten Ostereiern, das zyklische, ewige Leben, verdichtet in der Erzählung von der Auferstehung des Herrn, wieder gefeiert wird. Das Tor zum an die Kirche sich anschließenden Gottesacker ist zugesperrt, doch siehst du auch so durch die Stäbe die Krokusse und Schneeglöckchen blühen, hörst deren Botschaft vom bald allseits wiedererstehenden Leben, für die der Glaube dir nicht fehlt. Das Dominikuskloster taucht auf; das stattliche, gelbe Frontgebäude war wohl früher das Gutshaus, dann das Mutterhaus des Klosters der Christkönigsschwestern. Hier haben sie seit 1927 bald ein Jahrhundert lang hilfsbedürftige Menschen gepflegt und geheilt, ehe zwei Betrüger sie um ihr Vermögen brachten und sie alles verloren, das Kloster nicht überleben konnte. Jetzt belebt die christliche Gemeinschaft Chemin Neuf, Neuer Weg, Haus und Kirche. Auch hat in der Gnadenkapelle die Gemeinde des Heiligen Isidor Einzug gehalten, die Berliner Diözese der Russisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats, deren Oberhaupt ein gewisser Kyrill I. ist. Es heißt, der sei ein ehemaliger KGB-Agent, ein Milliardär und segenspendender Anhänger des Kreml-Schlächters. Wie betet es sich wohl, wenn ein solcher das Oberhaupt ist? Christlich den Nächsten zu lieben und gleichzeitig zu wissen, der Kyrill segne das grausame Töten und Foltern der rußländischen Soldateska in der Ukraine, kann das zusammengehen? Du stehst vor der Kapelle und überlegst, die Tür zu öffnen. Da hörst du von drinnen ein Lachen, von zwei Menschen, und plötzlich zögerst du, sie zu öffnen. Du könntest deine Fragen doch ihnen stellen, fürchtest dich aber vor einer Lage, die einen Abgrund zwischen euch eröffnen könnte, und so verläßt du lieber den Vorhof. Nebenan steht das Gästehaus Angelicum, das, wie ein Zettel an einem Pfosten im laubgefüllten Vorgarten mitteilt, seit dem 1.1.2013 geschlossen ist, da die Christkönigsschwestern das Kloster verließen. Es sieht unbewohnt aus. Warum bietet man es nicht ukrainischen Flüchtlingen an? Die Russisch-Orthodoxen, vielleicht haben sie längst und insgeheim sich von ihrem nur scheinbar christlichen Oberhaupt losgesagt, beziehungsweise hätten ihn zum Teufel gewünscht, wenn er nicht schon des Teufels wäre, und leisteten gerne ihren neuen Nachbarn tätige Nächstenhilfe? Aber wer hat die Schlüsselgewalt über das engelhafte Gebäude? So ziehen die Gedanken wie Schafe von selbst vorüber, während du weiter vorbei an einem Wäldchen über die Wiese gehst; und jenseits des hier unterirdisch kanalisierten früheren Wiesenbachs namens Lanke, von dem das Dorf seinen Namen erhielt, stößt du auf die Kleine Kneipe, die, ausgerechnet, für den 24. Februar 2023 Eisbein ankündigt - den fetten, fleischigen Unterschenkel eines Schweins -, Reservierung erwünscht, was du in deinem Leben noch nie gegessen hast und auch nicht essen wirst. Indes zieht im Himmel ein Schwarm Kraniche zurück aus dem Süden, und im Osten ist der Himmel weißblau, von gelben Schichtwolken durchzogen. Du gehst südwärts weiter und stößt am Halbauer Weg auf die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche, die das Gebäude von einer Römisch-Katholischen Gemeinde übernommen hat. Häuser und Gebäude werden immer, wenn sie verlassen oder aufgegeben oder ihre Bewohner vertrieben werden, von anderen neu bezogen, neu eingerichtet, neu beseelt. Das haben auch die frühen Christen getan, als sie ihre Kirchen über ehemaligen römischen, „heidnischen“ Tempeln errichteten. Es ist 17.08 Uhr, und die Sonne kommt heraus und taucht die Häuser in gelbrotes Licht. Die Cumuluswolken verschwimmen in orangegelbem Chiaroscuro. Und auch du verschwimmst, wie am Ende ohnehin alles verschwimmt, die Zeit, der Raum, die Erinnerung. Was einzig bleibt, ist das Verschwimmen. 21.2.2023
LICHTERFELDE Da sitzt sie, die ältere Dame, unter der Markise des Tchibo-Cafés am Platz vor dem Bahnhof Lichterfelde-West und hält sich an ihrer Tasse fest. Sie blickt in den Regen oder vielleicht jenseits des Regens auch in eine Ferne, die allein sie vor Augen haben kann, wo der Regen nachläßt und ein strahlender Tag beginnt. Sie umschließt den Griff der Tasse fester, als wolle sie nicht zurück in die Leere dieses Vormittags fallen. Der bietet nach außen hin nur das himmlische Naß und die bescheidene Geschäftigkeit der Geschäfte hier am Platz, und so schmiegt sie sich tiefer in ihre lange, bis zu den Füßen reichende Winterjacke, und am Kaffee nippend, schließt sie die Augen und träumt von früher, als ihr ein Jüngling den Hof machte. Der war damals ihr zukünftiger und ist heute ihr längst gestorbener Mann, der auf dem Friedhof unweit von hier seinen ewigen Schlaf gefunden hat. Das Leben folgt dem unveränderlichen Wechsel von Aufwachen und Einschlafen, so im Alltag, aber auch auf der ihn überschreitenden Ebene. Da besteht das Schauspiel aus dem unwahrscheinlichsten Erwachen eines Lebewesens aus dem Nichts und aus dem wahrscheinlichsten Verschwinden desselben zurück in das Nichts. Ein einmaliger Kreislauf. Aus dem Dunkel ins Licht und zurück ins Dunkel. Längst ist die Zeit vorbei, da ihr einer den Hof machen würde. Sie umgarnt auch keinen mehr. Das Garn liegt unbenutzt im Nähkästchen. So vor sich hin träumen ist, als pflegte sie ihre Seele. Es ist dieses Hiersitzen und in den Regen Schauen ihr Kosmetikstudio. Tränen rollen über ihre Wangen, und in ihnen blitzt ein Licht. Und mit diesem Blitz, der sich auf dich überträgt, ziehst du weiter und schenkst ihr ein Lächeln. In der Drakestraße schaust du zu Lüske hinein, dem Lebensmittelgeschäft, das sich in einem früheren Kino aus dem Jahr 1953 einquartiert hat, welches „Der Spiegel“ hieß und das die ältere Dame einst mit ihrer Liebe besucht haben mag, und es freut dich unmittelbar, daß das Bauwerk mit Empore, Saal und Leinwandseite erhalten geblieben ist, nur die Stuhlreihen wurden notwendigerweise entfernt. Ohne etwas zu kaufen, verläßt du die Höhle wieder und gehst weiter im Regen. In der Ringstraße siehst du Mitarbeiter der Straßenreinigung Kastanienlaub bergeweise zusammenrechen und die Haufen in abbaubare Säcke stopfen. In ein paar Monaten können die neuen Blätter erscheinen. Vorher wird tabula rasa gemacht. Was tot ist, wird entsorgt, kompostiert, beerdigt. Das Leben ist immer auch eine Platzfrage. Und du betrittst die Außenstelle des Amtsgerichts Schöneberg, dem burgartigen, von außen auf dich düster wirkenden Felsengebirge von einem Haus, und läßt dich im käfigartigen Eingangsbereich von den Justizbeamten auf Identität und Waffen prüfen, und als sie sehen, daß du eine Identität hast, worüber du freilich gerne noch einmal diskutieren würdest, und du keine Waffen trägst, womit du d'accord gehst, lassen sie dich alleine in das Innere des Gebäudes ziehen. Du gehst durch lange, hohe Gänge, suchst den Weg, gehst Treppen hinauf und Treppen hinunter, Türen gehen auf und Türen gehen zu, und noch ehe du dich versiehst, hast du dich verirrt, gingst du dir verloren. Nun sammle dich, bestimmt findest du dich wieder, an einem anderen Ort. 22.12.2022
MITTE Abends in beizender Kälte, die dich heimwärts treibt oder dir doch wenigstens den Besuch einer warmen Stube nahelegt, siehst du, von der Friedrichstraße kommend aus den Augenwinkeln am Gendarmenmarkt Besucher zur Aufführung des Weihnachtsoratoriums, Bach-Werke-Verzeichnis 248, in Richtung Konzerthaus streben. Das wäre eine gute, warme Stube, und so gehst du zum Eingangsbereich und prüfst, ob nicht irgendwer eine Karte übrig hätte. Für das von Musik durchmalte Aufwärmen wärst du bereit, zwanzig Euro springen zu lassen. Da kommt schon ein älterer Herr, fast rennend, im Pulk mit anderen, und du fragst, ob er seine offenbar übrige Karte, mit der er wedelt, nicht an mich verscherbeln wolle. „Ja, wieviel willste denn zahlen?“ sagt er, ganz Feuer vor Freude, daß er die Karte noch loswird. Indem du von seiner dich duzenden Ansprache absiehst, nennst du den abgemachten Betrag. Da lacht er auf und ruft: „Da lasse ich die Karte lieber verfallen - die hat über achtzig Euro gekostet.“ Nun denn, so zieh des Wegs, lieber die Karte lieber verfallenlassender Mensch. Es ist auch egal. Und weiter strömen die Menschen vorbei, übrigens fast allein betagte Semester, ja, ihrem Aussehen nach zu urteilen, scheint es, als hätte irgendwer die halbe Brandenburger Dorfbevölkerung, oder sind es die Eingesessenen der Berliner Dörfer, hierher mit Bussen gekarrt. Doch da die Kälte dich wieder daran erinnert, entweder subito hier den Konzertofen zu entern oder stehenden Schritts zu gehen, tendierst du, da ohne Ofenkarte, schon dazu, Leine zu ziehen, als just eine mantellose Japanerin in dünnem Tüll herausstolpert. Offenbar will die noch schnell eine Karte loswerden beziehungsweise an den Mann bringen. Also gut. Du sprichst sie an und nennst den bekannten Betrag. Sie bejaht zunächst und überreicht dir die Karte. Aber es tut ihr dann doch leid, nur so wenig zu bekommen, da sie so viel gezahlt habe, und sie überlegt sichs anders und will über den Preis verhandeln. „Vierzig Euro!“ Du gibst ihr die Karte zurück und schickst dich an, nun wirklich zu gehen, worauf sie sagt: „Ach, es ist zu kalt hier draußen, nehmen Sie die Karte, ich schenke Sie Ihnen!“ und rennt wieder hinein. Nun gut, in dem Falle solltest du Gnade vor Recht walten lassen und die Möglichkeit, dich im Konzerthaus beim Weihnachtsoratorium aufzuwärmen, nicht ungenutzt verstreichen lassen. Erst drinnen macht dich der Platzanweiser darauf aufmerksam, daß du sogar zwei Karten erhalten hast, einmal für die erste Reihe und einmal ein paar Reihen weiter hinten in der Mitte. In der Mitte ist die Akustik besser, und es sitzen da auch nicht so viele Besucher, warum auch immer, ein paar Plätze rechts und links neben dir bleiben frei, was dir ganz recht ist, und so kannst du, während Geneviève Tschumi im blauen Samtkleid mit ihrem dir nahegehenden, dich wärmenden Alt singt, in Ruhe auftauen. Es ist, als verwandeltest du dich von einem vereisten Bach in einen fließenden, springenden, seine jauchzend frohlockenden Töne lallen und sprudeln und jubeln durch dich. 3.12.2022
KARLSHORST Du befindest dich auf der Suche nach dem noch nicht entdeckten Odesa-Platz, den es hier neuerdings geben soll, benannt nach der Stadt am Schwarzen Meer, in der ukrainischen Orthographie, mit einem S. So wurde es beschlossen vom Bezirksparlament, im heißen Monat August, aus Solidarität mit der Ukraine, der angegriffenen, überfallenen, heimgesuchten, von dem scham- und gewissenlosen, aus rußigen Hinterhöfen Leningrads entlaufenen Schwerenöter mit der Miene einer einbalsamierten Leiche. Warum das Parlament den Platz nicht gleich nach der Ukraine benannt hat, den Ukraine-Platz in öffentlicher Sprechhandlung ins Leben gerufen hat, bleibt vorderhand ungeklärt. Nirgends entdeckst du ein Schild, das den bis jüngst namenlosen oder nicht existenten „Platz“ namhaft oder dingfest machen und zur Erscheinung bringen würde, und so bist du dir nicht ganz sicher, ob du auch wirklich am richtigen Ort zum Stehen gekommen bist, hier, wo Rheinsteinstraße und Ehrenfelsstraße in die Treskow-Allee münden, die unentwegt Wellen schlagende. Du ruderst hinüber in die Galerie im Kulturhaus und fragst den Galeristen, der es doch wissen muß. „Odesa-Platz? Noch nie jehört. Und ick wohn hier schon seit Ewigkeiten. Wo soll der sein? Ne, meen Lieber, den jibs nich!“ Und du ziehst weiter zur Buchhändlerin gleich um die Ecke in der Dönhoffstraße. Die mutmaßlich vieles lesende Frau, die sollte doch klarsehen. Pustekuchen, auch die staunt nur und starrt dich an, als wärst du ein Buch mit sieben Siegeln, von dem sie nicht zu sagen wüßte, wie sie die Schnallen öffnen soll, obschon sie es gerne täte. Auch in ihrem Hinterstübchen flammt bei Odesa keine Ahnung auf. „Hast du gehört“, fragt sie ihren Kollegen, „daß es hier einen Odesa-Platz geben soll?“ - „Einen Odesa-Platz?“ Und du siehst an seinem in die Ferne schweifenden Blick, daß er den doch in der Nähe liegenden, guten Platz nicht finden wird. Und weil ein umhergehendes Fragen erst bei drei Befragten anfängt, eine in Grenzen brauchbare Aussage zu bekräftigen, gehst du noch in die Feinbäckerei Hollschewski, unmittelbar neben dem mutmaßlichen Odesa-Platz. Um gute Stimmung zu unterstützen, kaufst du zuerst ein paar der ins Auge springenden Zuckerwerke aus der Auslage und stellst dann deine Frage. „Odesa-Platz?“ schnaubt es fast konsterniert über den Tresen. „Ne, tut mir leid, da bin ick überfragt!“ Nun läßt du es sein Bewenden haben und die Frage gut sein, im Bewußtsein der Bevölkerung hat sich dieser Platz noch nicht verankert, kein „Panzerkreuzer“ liegt im Hafen, keiner ins Auge getroffenen Frau entgleitet der Kinderwagen, der, inmitten der panisch vor den Schüssen aus den Gewehren der die Treppe herabkommenden Soldaten fliehenden Menge, über die Hafentreppe wippend und geradezu ungerührt zur Mole hinabrollt, wo er mitsamt dem Kinde vorwärts umkippt. Odesa liegt janz weit draußen, weiter draußen, als Berlin groß ist. Du begibst dich nun mitten auf den wahrscheinlichen Odesa-Platz und bleibst auf ihm stehen und versuchst, seinen Geist zu erhaschen, den er hat oder haben muß oder haben könnte. Ein wegweisendes Schild zeigt in die Rheinsteinstraße zum „Museum Berlin-Karlshorst“. Das heißt seit diesem Jahr so, nachdem es zuvor sieben Jahre lang „Deutsch-Russisches Museum“ (und unförmlich noch länger so) geheißen hatte. Die Museumsleitung hat den Namen jetzt allgemein und somit so oder so sachgerecht gefaßt und innewohnend das Brennglas auch auf andere Länder wie Weißrußland oder Belarus und Ukraine gelegt, die bekanntermaßen mindestens ebenso vom damaligen Deutschland angegriffen wurden. Anlaß der Umbennenung war selbstredend der seit dem vierundzwanzigsten Februar ausgeweitete, nun das ganze Land mit beispiellos schmählichen Raketen ruinierende Kriegszug des russischen Staates gegen die Ukraine, im Jahr 2014 mit der Überfall-Besetzung der Halbinsel Krim schon vom Grenzzaun gebrochen. Und du drehst dich um und siehst dort, am Theater Karlshorst, den seit 2014 nach Johannes Fest benannten Platz, dem Karlshorster Bürger und Mit-Verteidiger der Republik, der Weimarer, Rektor einer katholischen Volksschule und Bezirksverordneter, im April 1933 „aus dem Dienst entfernt“ und mit Berufsverbot belegt, nach dem Krieg als ein Stadtältester von Berlin geehrt, Vater auch des Historikers Joachim Fest. Nachdem der Vater sich von Anfang an gegen den Diktator und seine Partei gewandt hatte, wandte nach dem Krieg der Sohn sich zumindest wissenschaftlich- biographisch dem freilich toten Diktator zu und verfaßte eine Lebensbeschreibung. Später ging er auch dem einstigen Architekten und Rüstungsminister, unzeitgemäß Speer genannt, beim Verfassen von dessen schöngefärbten Erinnerungen zur Hand. Beim Studium in Heidelberg gingst du nolens volens täglich an dessen Anwesen im Schloß-Wolfsbrunnenweg vorüber, auf dem Weg zum Seminar oder von diesem nachhause, weil du schräg gegenüber im Klingelhüttenweg 1 wohntest. Der Name Wolfsbrunnen paßte unfreiwillig, wenn auch der Wolfsbrunnen selber idyllisch und besuchenswert ist. Bisweilen rollte ein Porsche über das Speersche Grundstück, und du glaubtest, es sei Speers Sohn Albert, der, in Frankfurt, gleichfalls Architekt und Städteplaner geworden war und es offenbar nicht für moralisch anstößig ansah, für die scheußlichsten Diktaturen der Welt zu planen und zu bauen, wobei er das freilich mit etlichen international tätigen Architekten gemein hat, diesen ruchlosen Huren blutrünstiger Despoten, was die Angelegenheit allerdings moralisch nicht weniger verwerflich macht. Unweit der einstigen Festlichen Wohnadresse steht die Kirche St. Marien (Unbefleckte Empfängnis), 1935 bis 1937 in neoromanischem Stil errichtet, mit der Hauptfassade und dem Turm in Rüdersdorfer Kalkstein, womöglich noch von der Familie besucht. Von 1905 bis 1910 war der Priester Bernhard Lichtenberg Seelsorger für die hiesigen, noch kirchenbaulosen Katholiken. Wegen Eintretens für die von den Nazis Verfolgten wurde er von den Nazis selber verfolgt, eingesperrt und mißhandelt. Auf dem Transport ins KZ Dachau verstarb er 1943. Als Märtyrer wurde er 1996 von der Kirche seliggesprochen. Nach dem Krieg entweihten die Sowjets die Kirche als Lagerhalle für Kohle und Möbel und als Viehstall. Du wanderst weiter, kommst zur Trabrennbahn Karlshorst, und gehst am Rande der Anlage entlang. Auf der Außenbahn dreht ein einsamer Traber seine Runden, während innerhalb des Ovals Reitschüler auf Pferden schaukeln. Der Wind tost über die leere, verfallende Tribüne, und hinten bei den Stallungen putzen Halter ihre Pferde, während Handwerker ihre Sachen für den Feierabend zusammenpacken. Du erreichst den Deich auf der Ostseite des Ovals, und ein weiterer Traber fährt jetzt mit seinem Rennwagen seine Runden in entgegengesetzter Richtung, auf der inneren der beiden Bahnen, zwei gegenläufige Uhren. Östlich davon liegt ein Neubaugebiet für junge Familien. Die Häuser tragen Pastell, als wären sie Bonbons, und hoffen auf friedliches Beisammensein, und wirken doch unfroh, fast wie eine Gefängnisanlage ohne Mauern. Mädchen radeln über die Trampfelpfade, auf dem Weg von der Schule nach Hause. Eine alte Eiche hat einen Ast verloren, und die Riß-Stelle sieht aus wie der „Schrei“ von Edvard Munch. Andererseits erinnert die Eiche mit ihren erhobenen Ästen an die nackte Vietnamesin, die vor den Napalmbomben flieht, Phan Thi Kim Phúc. Eine Düne ist eingezäunt, eine binnenländische Sandablagerung, von Kiefern bewachsen. Als du später von der Liepnitzstraße zur Hegemeisterstraße gehst, glaubst du kurz, in Österreich gelandet zu sein, weil die Häuser eingangs in Schönbrunner Gelb, auch Habsburger Gelb genannt, gestrichen sind, die Läden in Lindengrün. Ist das nicht Rodaun? Die Drei-Straßen-Aufgabelung Liepnitzstraße, Hegemeisterstraße, Oskarstraße mit ihrer lässigen Verschwenkung wirkt belebend auf dich, in der Seele, in den Hüften, in den Beinen, und schon beginnst du zu tanzen, während über dir die grauen Wolken nach Osten stürmen. Diese Waldsiedlung, dörflich anmutend, mit ihren fehlenden oder kleinen, gepflegten Vorgärten und herausgeputzten Häusern und den radfahrenden Müttern, hat einen außerweltlichen Charakter oder einen Charme, als wäre sie nicht von hier und vor allem für Kinder gebaut, für sie ein paradiesischer, verwunschener Ort. Freilich, auch hier, südlich und östlich, jenseits des Walds, tosen große Straßen - die Rummelsburger Landstraße und die Treskow-Allee. Egal, wo du bist, du wirst von diesen Kraftwagen-Strömen eingeschlossen. Der Traberweg, im ursprünglichen Teil von Karlshorst, nach Treskows Vorname benannt, lockt dich mit seiner uralten Eichen- Allee und den Schattengestalten der Passanten in der fallenden Dämmerung zu sich herein. An der Ecke Traberweg und Liepnitzstraße stößt du auf ein an Autofahrer adressiertes, altes Schild mit der Aufschrift: „Fahr vorsichtig. Es könnte auch Dein Kind sein“. Angenommen, es könnte keinesfalls dein Kind sein, sollte das heißen, du dürftest unvorsichtig fahren? Die Lehre der Geschichte lautet wohl: Paß auf, mach keinen Mist und vergiß nicht: Alles, was du tust, was du sagst, auch was du verschweigst, jeder Moment deines Lebens, hat Auswirkungen auf deine Mitwelt. Zu der Mitwelt gehörst im übrigen auch du selber, denn jede Handlung wirkt auf den Handelnden zurück. Und die Dämmerung fällt weiter, und wie sie weiter fällt, fällst auch du weiter aus dem Tag. 28.11.2022
FENNPFUHL An diesem düsteren, kalten Totensonntag siehst du, durch die Karl-Lade-Straße schlendernd, daß die Scheiben des Büros eines Politikers der Partei „Die Linke“ beschädigt sind; selbsternannte, sich gleichfalls als „links“ begreifende „Widerständige“ haben die Scheiben lädiert, so daß sie gesplittert sind wie Spinnennetze. Du siehst, wie sie auf ein auf der Innenseite angebrachtes Portraitplakat des Politikers eingeschlagen haben, als wollten sie das Gesicht, ihr Feindbild, zerstören, und hämmern es nur um so fester in ihr manichäistisches Weltbild. Ihr Credo: Hier sind wir, die aktionistischen Guten, die Gute Gewalt Ausübenden, und da sind die Bösen, die Parteien, der Staat, die Kapitalisten, und letztere zeichnen letztlich für alles Leid der Erde verantwortlich. Davon läßt sich aber das „Libero“ nebenan nicht beeindrucken, die Fußballkneipe, an deren Außenwand schon der Spiel- und Fernsehplan für das anstehende Fußballturnier in Katar angebracht ist. Was würden die Biertrinker und Fernsehgucker sagen, wenn die „Widerständigen“ zu ihnen eindrängen und ihnen den Fernseher zertrümmerten, weil der Fußball schließlich nicht nur ein unschuldiges Spiel, sondern auch ein gekapertes Objekt der globalen Geschäftemacherei ist, also des schlechthin Bösen, das auf dem rechtlosen Kreuz tausender Bauarbeiter sein zynisches Geldscheffel- und Selbstinszenierungs-Zeremoniell erfolgen läßt? Im Nachbarhaus klopft sich der Bäcker in der Stube der Bäckerei Rauch das Mehl vom rechtschaffenen Bäckerhemd. Von seiner Hände Arbeit lebt er, von der ehrlichen Hand in den goldenen Mund. Du gehst weiter, und zwischen den hohen Wohntürmen hast du das Gefühl, am Grunde einer Schlucht zu wandeln. Du betrittst den weitläufigen Anton-Saefkow-Platz, während die fröhliche Tram durch eine wie für sie allein gewachsene alte Allee saust. Der Kommunist Saefkow, Gegner der „Nationalsozialisten“, hat anscheinend in Berlin die meisten postumen Ehrungen der Widerstand Leistenden erhalten, der Platz, eine Straße, ein Park, eine Schwimmhalle, eine Bibliothek sind nach ihm benannt, und ein Ehrengrab, in Niederschönhausen, wird von der Stadt auch unterhalten, aber um einen Wettbewerb geht es da natürlich nicht. In Plötners Bäckerei und Cafe sitzen derweil Dutzende von würdigen Damen in schickem, altbackenen Plunder bei dünnem Kaffee und dickem Kuchen und plaudern miteinander als wäre die Welt in Ordnung und der Sonntag für die Ewigkeit. Die Dämmerung schickt sich an, langsam zu fallen und en passant im Park das Blau der Sitzbänke zu verschleiern, das maritimste Blau, das du je sahst und in dem du gern für immer verschwimmen würdest. 20.11.2022
PANKOW Kennenlernenswert ist diese Hündin, deren Name zum Schutze ihrer Persönlichkeit nicht veröffentlicht und deren Aussehen aus selbigem Grunde nicht beschrieben werden kann; wäre Venus ein Hundename, würde er zur ihr passen. Ihr Zuhause ist die tschechische Bierstube „Prager Frühling 1968“, die auch eine Kunstgalerie und ein Museum für tschechoslowakische Film- und Gesangskultur der Nachkriegsgeschichte ist, obendrein ein begehbares Kunstwerk. Meist sitzt sie hinterm Tresen auf einem Barhocker mit Lehne, sitzt auf ihrem Hinterteil und hat die Vorderbeine durchgestreckt und beobachtet genau, was alles ihr Lebenspartner am Zapfhahn gelehrig verzapft. Das Sitzpolster hat sie mit ihren Krallen zerrissen. Ihr Lebensgenosse behandelt sie scheinbar wie Luft, doch als er einmal auf Slowakisch etwas sagt (sie versteht nur diese Sprache), springt sie vom Hocker herab, dreht eine Lokalrunde und streckt die Beine durch und gähnt. Währenddessen vertilgt ein Gast am Tresen mit größter Befriedigung zwei „Ertrunkene“, süß-sauer eingelegte Brühwürste, bei deren bloßem Anblick dir fast weh ums Herz wird, und schaut nebenher am aufgehängten Bildschirm das Freundschaftsspiel Türkei versus Tschechien an, die es beide nicht zur Fußball-WM nach Katar geschafft haben. Die Hündin schaut nicht ein Mal zum Fernseher hoch, als wäre der überhaupt nicht existent, anscheinend interessieren Hunde sich nicht für Fußball. Die Hündin schließt schläfrig die Augen. Treten Stammgäste herein, springt sie ihnen entgegen und nimmt Streicheleien entgegen, als wären sie die Eintrittsgebühr, die sie zu entrichten hätten. Eine junge Deutsche mit langen goldenen Haaren drückt und streichelt die Hündin auf liebste Weise gute zehn Minuten, sie verpaßt ihr sogar einen Kuß in den Nacken. Sind die Plätze im Schankraum besetzt, geht die Hündin umher und stellt sich an den Tischen neben die Gäste und wartet, wartet nur kurz; denn die wissen, was sie zu tun haben: sie streicheln. Die meisten Streichler streicheln auch ihre Ohren und zupfen fast daran, das scheint ein Höhepunkt des Genießens für die Hündin zu sein. Wenn sie sich dann auf den Hintern setzt und die Brust rausstreckt, deutet sie an, man solle noch mit sanften Strichen ihre Brust behandeln. Es ist diese Bierstube der Massagesalon der Hündin. 19.11.2022
NIEDERSCHÖNHAUSEN Ein unerwartet früher Wintereinbruch, oder ein Vorspiel des Winters, ein Vorbote doch, mit halbtaglangem, kräftigem Schneefall. Anfangs, am Vormittag, allerdings hat es nur leicht geflockt, das Flocken war ein langsames, fast schien es, als wollte es sein Tun wieder einstellen, ehe es gegen Mittag den Beweis antrat, dies doch nicht tun zu wollen. Nach und nach wurde es immer stärker, bis es schließlich noch und noch herunterfiel, ein Vorhang, der das Panorama, die Stadt verschleierte. Du gingst durch die Heinrich-Mann-Straße, an einer Bushaltestelle stand eine alte Frau unter dem Dach, mutmaßlich den Bus erwartend oder auch nur darauf wartend, daß der Schnee aufhörte. Der hörte aber nicht auf, und links und rechts verloren sich Wohnstraßen mit ihren sittsamen, sattsam bekannten Familienhäusern, und der Heinrich-Mann-Platz, das große Rondell, in dessen Mitte die Bäume sich dem Treiben entgegenbäumten, schien dir ein guter Platz zum Tanzen, und die Flocken tanzten auch. Nördlich der Hermann-Hesse-Straße lag die im Schnee schon entrückte Schönholzer Heide, und während du gingst und der Schnee unter deinen Schuhen knirrte, bemerktest du, wie die Flocken dich kleideten, ein Schneepelz hat sich um dich gelegt. Es war Nachmittag, und im beständigen Schneefall, Myriaden von weißen Kristallen, die herniederschwebten, war das Licht gefiltert. Du betratst den Wald, seitlich auf einem hügeligen Weg gingen Menschen mit einem Hund, aber du konntest sie nur hin und wieder sehen, hinter dir schritten zwei schneegefiederte Frauen, eine Wiese, schneebedeckt, lockte zwei Kinder, auf ihr eine Kugel zu bauen, der Vater vereiste stumm daneben. Jenseits der Germanenstraße, durch die gerade ein Bus Schnee von der Straße pflügte, gingst du durch die Lindenallee, die zum Sowjetischen Ehrenmal führt. Du gingst in es hinein und gingst in ihm umher, während dich die Furcht beschlich, das Tor könnte vor der Zeit geschlossen und du eingeschlossen werden mit 13200 Toten, in der Schlacht um Berlin gefallenen und in Gefangenschaft gestorbenen Rotarmisten, die ihre letzte Ruhe hier gefunden haben. Die Anlage ist voll Ernst, Pathos, Emphase; der als Helden geehrten, ihr Leben gegeben habenden Männer und Frauen gedenkt die „sowjetische Heimat“, die sowjetische Übermutter für immer. Und dir fiel das Anti-Kriegsmuseum von Ernst Friedrich ein, Friedrich ein paradox passender Name für einen, der nach der Devise „Krieg dem Kriege“ verfuhr, in der Parochialstraße 29 in Mitte, einen Schneeballwurf von der Klosterstraße entfernt, unweit der Spree, hat er es 1923 eröffnet, ehe es, zehn Lenze später, die Nazis verwüsteten, und an dessen einstiger Stelle eine Gedenktafel an es erinnert, neben der rechts und links an je drei Ketten zwei Soldatenhelme kopfüber als bepflanzte Blumenampeln hängen. Es ist dies eine andere Form der Losung „Schwerter zu Pflugscharen“: Helme zu Blumenampeln; diese „Skulptur“ provoziert, sie ist lächerlich, ist humoristisch, ist poetisch, und sie löckt gegen das todernste Pathos. Eine solche Skulptur wäre hier auf dem Gelände dieses Ehrenmals undenkbar, schon der Begriff Ehrenmal ist von einer musealen Antiquität, daß ihn heute niemand mehr ohne Not in den Mund nehmen würde. Andererseits, wenn die Sowjetarmee allein in Berlin rund 80000 Soldaten „opfert“, dann ist es nach der Schlacht gleichsam natürlich oder geradezu zwingend, die Gefallenen zu begraben und ihnen ein ihnen Ehre erweisendes Andenken zu verschaffen. Die Überlebenden sind das den Toten schuldig. Jesu Wort in Matthäus 8, 22, die Toten sollten ihre Toten selber begraben, haben sie sich nicht zu eigen gemacht. Freilich, vielen der gefallenen Soldaten wäre es womöglich lieber gewesen, zuhause bei den Lieben ein „unheldenhaftes“, doch langes Leben zu führen, anstatt hier gleich einem sowjetischen Achilleus unverwelklichen Ruhm „zu genießen“. Das Schicksal aber, das Zeitalter, in das du hineingeboren wirst, reißt dich, ob du es willst oder nicht, mit in seinen Schlund, du kannst versuchen, es zu fliehen, oder den Kampf annehmen, nach dem du nicht verlangt hast; ob du am Ende durchkommst, weiß nur die Zeit, die es an den Tag bringt. Frei ist der Mensch immer nur bedingt, die Eltern, das Land, die Epoche, wohinein du geboren wirst, reden immer wenn auch schwer zu deutende Wörtchen mit, bei allem, was du tust. Was du aber tust, tu tunlichst tunlich. 19.11.2022
MALCHOW Anders als Wilhelm I., König in Preußen, kommst du nicht von Niederschönhausen, vom Schloß her nach Malchow, sondern von Neu-Hohenschönhausen aus, am Hechtgraben entlang, auf des Schusters Rappen, ohne Kutsche. Der Hechtgraben führt Wasser zum Malchower See, von dem gelangt es über den Fließgraben zur Panke bei Blankenburg. Der König und seine Gemahlin Sophie Charlotte kamen häufiger hierher, um den eminenten Minister Paul von Fuchs zu besuchen, sie taten das auch an einem Tag im August 1704, als der Reichsfreiherr verstarb. Ein Todesfall, der den Kutscheninsassen auf halber Strecke zugetragen wurde. Sie machten wieder kehrt, mutmaßlich betroffen. Leidenschaftlich aufgeräumt, wohlorganisiert, umsichtig war der 1640 in Stettin geborene Fuchs, erwarb das Gut von Herrn von Barfus, ließ es ausbauen, errichtete und renovierte Wirtschaftsgebäude, darunter ein Brauhaus, ein Predigerwitwenheim und ein Armen- und Waisenhaus. Im Wohnhaus gab er, Brauhaus verpflichtet, feuchtfröhliche Feste. Heute arbeiten hier von Genußgiften Erkrankte auf nüchterne Weise an ihrem Weg ins normale Leben, sie üben es jeden Tag, nennen es den „Tunnel zurück ins Leben“, in der Formulierung klingt sprachlich das Register des Religiösen an, als gehe es darum, aus der Hölle der Sucht über das nüchterne Fegen zurück in die lichte Freiheit zu finden, eine Erfahrung des Transzendierens, des Überschreitens, um in ein friedliches Reich zu gelangen, sich selber zum Reichsfreiherr über das Leben zu erheben. Du gehst ein Stück auf dem Max-und-Herta-Naujocks-Weg, benannt nach dem Ehepaar, das seit 1943 in seiner Hütte in der Kolonie Wiesenhöhe die jüdische Familie Weiss versteckt hielt, Mutter Regina und Tochter Ellen überlebten, Vater Moritz nicht, er wurde bei einem Ausflug nach Berlin „erwischt“. Der Malchower Teichweg bringt dich zum Wartenberger Weg, der verkehrsreichen Straße, rasende Autos und Schwerlaster, aber was heißt rasend, wer rast denn, rasend macht es die Insassen, wenn jemand vor ihnen zu langsam fährt, dann hupen sie und überholen die Ente. 30 km/h sind vorgeschrieben was freilich keinen bekümmert, sie sind, scheint es, Anhänger des Privatismus, die sich vom Staat, den sie ablehnen oder dem sie längst die Gefolgschaft gekündigt haben, nichts vorschreiben lassen. Wer hat das Recht, mir zu sagen, wie sehr ich das Gaspedal durchdrücken darf? Sie rasen und gasen an der Kolonie vorbei, in der die Naujocks die Bedrohten versteckten, je höher die Geschwindigkeit, desto weniger siehst du die Details der Umwelt. Die uralte Eiche nebenan im Bruchwald liegt frisch gefällt, liegt da wie ein Riese, tot. Im Wald steht auch ein Gedenkstein für den 1934 abgestürzten „Kunstflieger“ Günther Fries, ein Junge aus dem Dorf, alt zwanzig Jahre, auf dem Friedhof liegt er, die halsbrecherischen Loopings, die er flog, waren am Ende genau das. Auf dem Friedhof, neben den Ruinen der im April 1945 wie die beiden Kirchen in Wartenberg und Falkenberg von Deutschen gesprengten Dorfkirche, in deren einstiger, längst zugeschütteter Gruft die Fuchsschen Überreste ruhen, hörst du ein Pferdewiehern, es kommt vom Pferdehof nebenan, und du bist ihm dankbar, weil es dir das Gefühl verschafft, unter Menschen zu sein. Im Pfarrhof hängen drei Kirchenglocken in einem schlichten Holzschutzbau. Daneben die neue, schmucklose Kirche. In den Blick dreht sich von Osten her ein riesiges Windrad. Der von rührigen Naturen herausgeputzte Naturhof Malchow bekommt jedes Jahr feierlich erwarteten Besuch: die aus dem Süden zurückkehrenden Störche. Die stören sich offenbar nicht an den Hochspannungs- leitungen, die niedrig über das Dorf gespannt sind. An der Dorfstraße steht einsam ein Obst- und Gemüseverkäufer an seinem Stand, und eine gehbehinderte Frau, aus dem Bus gestiegen, muß einen hundertemeterlangen Umweg zur Ampel machen, weil sie über die Straße nicht kommt. Vielleicht ist ihr das so lieber, als durch beherztes oder wagemutiges Überqueren den Verkehr zum Einhalt zu zwingen. 30.3.2022
WARTENBERG Neben dem einst sichtbar mit Hang zur Feinheit und mit Hoffnung auf eine Zukunft hier betriebenen, jetzt verwaisten, vom Benzinnebel des Verkehrs unbehelligt vor sich hin verfallenden Hofladen an der Dorfstraße befindet sich ein Schaukasten aus Glas. In ihm waren früher Mitteilungen, Angebote, Zeiten zu lesen. Jetzt ist es dem am Wegrand wuchernden Brombeerstrauch gelungen, die Umrahmung des Kastens am unteren Rand zu öffnen und sich mir nichts, dir nichts in den Schaukasten zu stehlen. Da sind jetzt keine Informationen mehr zu lesen, sondern Brombeeren hinter Glas. Wobei die Brombeeren hinter Glas selber auch Informationen preisgeben. Zum einen etwa die, daß die Natur irgendwann wiederkehrt und es dem von teuflischem Ausbreitungs- und Ausbeutungsprinzip gerittenen Menschengezücht nicht gelingen wird, sie auf Dauer zu zähmen. Zum anderen, daß auch Brombeeren sich irren und verirren können. Denn in dem Kasten machen sie jetzt doch eine unglückliche Figur. Und während der zehn Minuten, in der es dir nicht gelingt, die Straße zu überqueren, fragst du dich, was Fortschritt heute noch bedeutet. Was hatte dieses Dorf, dessen uralte Gehöfte und Häuser noch passabel erhalten und an sich nicht unansehnlich sind, davon, im Jahr 1920 nach Berlin eingemeindet worden zu sein? Im Grunde gibt es das Dorf nicht mehr, auch wenn einige Bauwerke noch stehen. Das einzige, was hier herrscht, ist der Autoverkehr. Es ist dies ein Fortschritt, der mit Verlusten einhergeht. Wahrer Fortschritt wäre womöglich einer, der das Wahre, Schöne Gute fördert, ohne gleichzeitig Leichen zu scheffeln. Das Auto an sich hat zwar etwas praktisches, wenn es dich bei Regen trockenen Fußes von A nach B bringt, und das auch schneller, als mit der Postkutsche. Wenn du aber während der Fahrt nicht aufpaßt, und jemand kommt zu Tode, was hast du dann vom Praktischen? Gibt es also überhaupt Fortschritt? Oder ist der immer dialektisch? Liegt im Leben selbst vielleicht etwas tragisches in dem Sinne, daß egal, was du tust, dies immer auch ungewollt schlechte Wirkungen hervorbringt? Wenn du jetzt zu Fuß hinaus in die Feldmark gehst, dann verbrauchst du, ähnlich wie ein Auto, Energie, du wirst müde und mußt dich auf diesen Markstein da setzen und warten, bis du wieder zu Kräften kommst. Wo bekommst du aber die Energie her? Irgendetwas mußt du essen, vielleicht dieses Tier? Das wird damit nicht einverstanden sein. Du gehst hungrig zurück zum Dorf und weißt, es ist nicht einfach, keinen Fußabdruck zu hinterlassen. Das ganze Leben ist ein beständiger Wettkampf um Ressourcen, um Waffenherstellung, um Wissen, um Anwendung, um Fortpflanzung, um Geschwindigkeit, der frühe Vogel fängt den Wurm, wer zuerst kommt, mahlt zuerst, Redewendungen, geronnenes Alltagswissen, und gegenüber dem Bahnhof von Wartenberg betreibt ein Pole einen Imbißstand, an dessen Biertisch vier Deutsche hängen und Bier trinken, sie wirken so, als würden sie auf nichts mehr warten, nichts mehr von sich erwarten, sie erwarten höchstens die staatliche Stütze, um im Suff glücklich die letzten Jahre, wenn es solche sein werden, abzusaufen, und am Bahnsteig wartet die hier einsetzende S-Bahn Richtung Warschauer Straße, junge Leute steigen ein in Erwartung einer Party, die sie in den Kiezen von Kreuzberg und Friedrichshain feiern werden. So geht alles seinen Gang, und am Ende wird nichts mehr so sein, wie es nie gewesen ist. 14.11.2022
FALKENBERG Angesichts der Grabestafel der Eltern der Gebrüder Humboldt, Marie-Elisabeth und Alexander Georg, beide starben in ihren Fünfzigern allzu früh, das an einem Mäuerchen bei den Überresten der einst aus Feldsteinen gebauten Kirche angebracht ist, denkst du nolens volens, wie es angebracht ist, auch an ihre Söhne, die nicht allein älter als die Eltern wurden, sondern auch die aufgelesenen Früchte ihres Geistes rechtzeitig ins unsterbliche Feld umzubetten verstanden und auf die Weise weiter mehr oder weniger schmackhafte Früchte in den Köpfen der nach ihnen Lebenden wachsen und reifen lassen können, eine Strategie, ähnlich verfolgt auch vom alten Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, der, wie Fontane es beschrieb, vor seinem Abscheiden beschied, man möge ihm eine Birne mit ins Grab legen, damit „er“, in insgeheimer Voraussicht, Jahre später, wenn aus der Birne ein Birnbaum gesprossen sei, wie zu Lebzeiten den lütten Kindern Birnen schenken könne. Der Kirche Stündlein freilich schlug am 21. April 1945, kurze Zeit bevor die Rotarmisten das Dorf erreichten. Die über 700 Jahre alte Kirche mit ihrem Turm sollte der Sowjetarmee, heißt es, nicht zur Orientierung bei etwaiger Beschießung dienen. Genau gleich erging es den Kirchen in den Nachbardörfern Wartenberg und Malchow, Gottes Häuser, pulversiert, Gott ein Obdachloser, vorübergehend, solange, bis man ihm wieder eine Unterkunft errichtet, sein Obdachlosenheim. Weil gleichwohl alles seine Ordnung haben muß, weist am Eingang ein Schild die Nutzer des Friedhofs darauf hin, daß der Abraum zur Abraumstelle zu bringen sei, und daß ungepflegte Gräber eingeebnet würden. Der Abraum. Was versteht man darunter? Jeder hat ihn vielleicht im Kopf, den Abraum, alten Plunder, den man zur Abraumstelle bringen sollte, die in dem Falle das Vergessen meint. Glücklich, wer vergißt, was nicht zu ändern ist. Zu der einen Zeit sprengen dem „totalen“ Krieg verschriebene Nazi-„Fanatiker“ die Kirche in die Luft, wie im ganzen „Reich“ andere gleiches oder auch anderes, Brücken zum Beispiel, um doch nicht zu retten, was nicht zu retten ist; denn damit in der Gefahr das Rettende wächst, hätte man bekanntlich zwölf Jahre zuvor den ganzen Braunhemdenladen, und nicht die Kirchen und Brücken, sprengen und ihre „Hüter“ zum Teufel beziehungsweise in die Luft jagen und somit dem Rettenden Raum verschaffen müssen. Zu der anderen Zeit ebnet man, auf einer kleinen, dem Alltag zugehörigen Verwaltungsebene, die Gräber ein, wenn Angehörige nicht wissen, was Pflege ist. So hat alles seinen Sinn beziehungsweise Unsinn. Und du ziehst weiter, gehst am Rande der Straße und erlebst, wie der Durchgangsverkehr das Dorf unter sich begräbt, desertierst in den einstigen Gutspark der Frau von Humboldt, in dem heute allein noch Bäume leben, gehst weiter hinaus zu den Rieselfeldern und dem Horizont ins offene Messer. 14.11.2022
RUMMELSBURG Abends um sechs, draußen ist es längst finster, erklingt in der Erlöserkirche an der Nöldnerstraße mit Chor, Solisten und Orchester im Gottesdienst die Bachkantate Bach-Werke-Verzeichnis 39 „Brich dem Hungrigen dein Brot“. Es sind, neben antikeren Semestern, etliche blutjunge, elaboriert-filigrane und herzensfröhliche Christenmenschen erschienen, so daß du vorsatzlos denkst: „Das ist das Christentum“, und nicht jene Ausfertigungen, die in den „Medien“ geistern mit ihren allzu oft zeitgeistlichen Einlassungen und ihren cum grano salis grimmigen Mienen. Und als der Chor zu singen beginnt, hebt dich die voluminöse Gegenwart der Stimmen fast aus der Kirchenbank heraus, und du fühlst dich in dieser warmen sinnlichen Nähe und in den Händen dieser sanftesten Gewalt geradezu begütigt. Was wäre ein Gottes-, nein: laß Gott beiseite, was wäre ein Seligmachungsbeweis, wenn nicht diese Kirchenmusik? 13.11.2022
ALT-HOHENSCHÖNHAUSEN Aufzustehen, fällt dir manchmal schwer, an grauen Tagen zumal; das fällt dir auf, und schon gehst du leichter, von der deutschen Sprache mit einem Stromstoß belebt, hinaus, in den Straßenwald hinein. Im Sportforum kannst du weiter staunen über die leichte 50er-Jahre-Eleganz der Sporthalle, wie ein Banner mit diesem einen Wort sie bezeichnet, serifenlos. Und du gehst selber serifenlos weiter durch den Tag, befreit von allem, was ansatzweise Ornamenten gleicht. Die unterschiedlichen Sportarten, hier ausgeübt auf fünfunddreißig Sportanlagen, von der Schwerathletik zur Leichtathletik, von Ballspielen zum Kunstlauf in der Eishalle, wo Mädchen ihre Eisballerina-Pirouetten einüben, während Kati Witt ihnen über die Schulter schaut, haben eine ansteckende Wirkung auf dich, du kannst dich dem Belebungsfeld nicht entziehen, und wo drüben neben der Schwimmhalle die Olympiaschwimmer im Strömungskanal trainieren, springst du mit ihnen ins Wasser. Hinter der Mauer liegen die Friedhöfe der lokalen evangelischen Gemeinden, es ist die Mauer für die Ewigkeit, die niemals fällt und welche die Ruhe der Toten schützt. Auf dem weiteren Weg, es ist schon fast dunkel, ein fernes Blau nur ist über dem Jüdischen Friedhof noch zu sehen, passierst du den Betriebshof in der Indira-Gandhi-Straße, und an den über hundert Ladesäulen, hintereinander und nebeneinander gestaffelt, leuchtet ein grünes Licht. Daneben stehen die Elektrobusse und saugen im Schlaf den Strom für die Fahrt am nächsten Tag. 9.11.2022
FRIEDRICHSFELDE Der für Passanten schier unüberquerbare Boulevard Alt-Friedrichsfelde, aus den Bundesstraßen B 1 und B 5 bestehend, von Wohnhochhäusern links und rechts steilwandig begrenzt, tost vor Auto- und Lastwagenverkehr. Du weißt nicht, warum du dieses Tosen und Rauschen, unaufhörlich, in beide Richtungen, nach dem Osten, Polen und Rußland zu, nach dem Westen, dem Zentrum und Aachen und Dänemark zu, nicht schön oder gar erhaben finden kannst, so wie du das Rauschen und Tosen der Iguazu- Wasserfälle an der Grenze zwischen Brasilien und Argentinien schön und erhaben findest. Könntest du dieses Tosen und Rauschen hier, von menschlicher Technik hervorgerufen, nicht womöglich sogar schöner und erhabener finden? Die Wasserfälle sind natürlicher Abläufe Resultat, das im Zuge der Erdgeschichte sich aufgrund bestimmter physischer Bedingungen ergeben hat. Zu bestaunen in jedem Falle. Aber der Mensch, der Erfinder der ganzen technischen Mitwelt, vom Rad über das Auto bis zum Flugzeug, was hat nicht er alles, freilich auch unnützes und gar schädliches, der Erde bewußt hinzugefügt? Sind der Krach, der Lärm, das Tosen und das Rauschen dieser nicht-natürlichen Klangsphäre, jahrmillionenlang undenkbar, unhörbar, nicht auch Ausdruck seiner beispiellosen Gabe, die Erde selber, nach Wunsch und Wille, wenn auch nicht immer nach langfristig klugem Plan, zu gestalten? Erscheint dir das, so gesehen, nicht ungleich beeindruckender als die Wasserfälle im Urwald? Hier stehst du mitten im von Menschenhand erbauten Felsen-Wald der Wohnhochhäuser, und vor deinen Augen rauscht und rollt und blitzt der andauernde Strom des automobilen Lebens. 8.11.2022
LICHTENBERG Julia Graureiher, du stehst seit Stunden aufrecht auf der halbrunden Brüstung des Terrassenbalkons am Stadtparkteich und wartest, selbst wie versteinert, doch hellwach, auf deinen Romeo, wollte er auch nur als Fisch erscheinen. Du würdest dich, um alles in der Welt, sogleich auf ihn stürzen und ihn verschlingen, so ihr vereinigt werdet, Hochzeit feiert. Wann taucht er durch den Spiegel des Unbewußten auf? Wann findet der Umwandlungs- und Austauschprozeß statt, nach dem du dich sehnst? Du wartest auf den Moment, in dem es auf alles ankommt. Es ist ein Warten der Camouflage. Romeo soll überrascht werden, wenn du zu ihm hinunterpfeilst. Amors Pfeil, dein Pinzettenschnabel, Liebe eine Operation am offenen Herzen. 7.11.2022
FRIEDRICHSHAIN Jeder Hund hat seine Biographie. Auch der auf dem Balkon in der Krossener Straße 22, 2. OG rechts, den du im Vorbeigehen bemerkst. Es handelt sich um einen mittelgroßen, blondfelligen Familienhund. Welcher Rasse er angehört, weißt du nicht, wenn es auch für die Hundekenner angebracht wäre, das zu wissen. Jedenfalls hat sein Herr und Diener aus der Balkonbrüstung zwei Segmente entfernt, damit er besser das Treiben auf dem Platz beobachten kann. Der Platz ist nach der einst hier befindlichen Ansiedlung Boxhagen benannt. Was dem Hund, der flach auf dem Balkon liegt, mit der Schnauze nah am Abgrund, durch den Kopf geht, wenn er die sonntäglichen Trödelmarktbesucher sieht, weiß selbstredend niemand. Sollte er jedoch den Grüffelo kennen, das Ungeheuer aus dem gleichnamigen Kinderbuch, das kratzige Klauen, herausstehende Zähne, spießige Hörner, Stacheln am Rücken, beleuchtete Augen und eine narbige Nase hat, dann denkt er vielleicht: Dort unten haben Hunderte von menschlichen Grüffelos sich versammelt, mit ihren Tätowierungen, ihren mit Stiften und Ringen durchbohrten Lippen, Nasen, Wangen, Ohren, ihren lackierten Fingernägeln, geschminkten Augen, vernarbten Nasen und ihren Lederjacken mit Stacheln. Via Gärtnerstraße gehst du die Modersohnstraße hinauf und über die nach diesem Sohn des malerischen Moors benannte Brücke, unter der die Züge nach dem Osten rollen, und während der Tennisclub den dich immer beschwichtigenden Klang aufspringender Tennisbälle vermissen läßt, kotzt nebenan auf dem Rudolfplatz ein mongolischer Vater sich die Seele aus dem Leib. Besorgte deutsche Spielplatzmütter alarmieren die Rettungssanitäter, die auch bald erscheinen, sich jedoch sprachlich mit ihm nicht unterhalten können. Sie können kein Mongolisch und er kein Deutsch. Wie bei einem Säugling, der nicht sagen kann, wo's brennt, oder wie bei einem Hund, der nur stumm leiden kann, ohne dem Veterinär seine Schmerzen beschreiben zu können, bleibt nichts anderes übrig, als im Krankenhaus mit Hilfe der Apparate des leidenden Menschen Problem zum Sprechen zu bringen.
In der Zwinglikirche räumen nach ihrem Worship die herausgeputzten Musiker ihre Instrumente und Mikrophone zusammen, die Männer im Sonntagsstaat, die Frauen in bonbonpapierbunten Kleidern und mit Hüten in der Form von Orchideen-Blüten. Auf der längsten Sonnenbank weit und breit, am rechten Ufer der Spree zwischen Elsenbrücke und Oberbaumbrücke, am ehemaligen Osthafen, sitzen, liegen und spazieren derweil die Sonnenhungrigen und feiern auf ihre Art jenes himmlische Phänomen, dem sie ganz offensichtlich innig zugetan sind, und das sie mit Licht und Wärme speist. 6.11.2022
KREUZBERG Lastenrad Es ist ein trüber regnerischer Nachmittag im November, die gefallenen Blätter haben sich zu einem glitschigen Matsch vereinigt. Du gehst die Oranienstraße hinunter wie seit Jahren immer wieder und ziehst dich in die Jacke zurück, der Kälte zu entgehen, und denkst an Orange, ans Amphitheater mit den mächtigen Steinen, in dem du mit der Liebe, in der Hitze vergehend, vor dem inneren Auge die Schauspieler deklamieren hörst.
Dem Kunsthaus Bethanien gegenüber, wohin du das Kind zum Flötenunterricht bringst, reihen sich die Türken zu einem Hochzeitscorso auf, Limousine an Limousine, Hunderttausende Euro schwere Karossen, ganz vorne ein zitronengelber Lamborghini, die Männer in ihren sie einquetschenden Glanz-Anzügen stehen beieinander und stecken sich Zigarillos an, auf der Motorhaube ein üppiger weißer Blumenstrauß.
Manteuffelstraße, Pücklerstraße, untergegangene preußische Politiker- und Landschaftsarchitekten- Herrlichkeit, wann werden die Straßen umbenannt? Es ist nur eine Frage der Zeit, scheint es, wie überhaupt alles untergeht oder dem Willen der momentan herrschenden Bestimmer unterworfen ist. Dir schwindelt, fast fällst du hin, und du rettest dich in die Markthalle Neun und legst dich auf einer Bierbank schlafen, unweit des Meckatzer Tresens. Es ist mollig warm hier herdrinnen. Dänische Touristen und Männerpaare schlendern umher, und die Kaffeetüten verkaufende junge Frau steht ganz alleine, kundenlos, stoisch hinter ihrem Tresen. Vorbildlich steht sie in ihrer ganzen Grazilität da, eine lebende Pallas Athene.
Du ziehst weiter, ausgeruht, und vor dem Haus von Paula Wendt am Lausitzer Platz 10, der Gerechten unter den Völkern, die mit ihrer Schwester Ida und ihren Arbeitgebern, dem Ehepaar Wiegel, in der Nazi-Zeit Juden geholfen und sie in ihrer Einzimmerwohnung versteckt hat, probiert eine junge Mutter ein elektrisches Lastenrad aus, und ihr Mann und ihr Kind schauen von der Seite ihr dabei zu. Sie sagt aufgeregt: „Das ist echt gewöhnungsbedürftig“ und du hörst dieses bekräftigende Beiwort „echt“ und fragst dich, was für dich echt gewöhnungsbedürftig sei. Das Leben selbst? Das Sterben, das unmögliche, alltägliche? Immer geht im Leben etwas vorbei. Es sind die Tode im Leben, an die du dich gewöhnen mußt. Menschen sind Passagiere der Zeit. Sie passieren einander, du selbst bist ein Passant, und da ist die Passantin, die du wie in Baudelaires Straßenszene geliebt hättest. Das Vergängliche, das Unwiederbringliche, das Verlorene, die flüchtige Zeit, es ist, als könntest du diesen dich zeichnenden Erscheinungen und Lebenstatsachen niemals entrinnen. Möglich, weil du von Anfang an selber vergänglich, unwiederbringlich, verloren und flüchtig bist.
Kaputte, bettelnde Gestalten am Eingang zum Hochbahnhof Schlesisches Tor passierend, gehst du um 16.38 Uhr, wie die Bahnsteiguhr zeigt, Richtung Westen und siehst über den Gleisen einen Abendhimmel leuchten, als wäre er eine begehbare Lichtinstallation von James Turrell, eine Raum-in-Raum-Verblendung, ein Ganzfeld grenzenlos, und du gehst in ihn hinein und gehst und gehst immer weiter und findest dich am Ende selbstverloren nicht mehr wieder. 4.11.2022
TIERGARTEN Versunken im Großen Tiergarten, wo die Baumriesen ihre Garderobe in magnetischen Farben den angezogenen Augen präsentieren und wo abgestoßene Blätter in der Luft zerflattern, tauchst du wieder auf.
Wünschen die Waldschlackse insgeheim, daß Menschen ihr Farbenspiel bewundern und sich so um ihr Wohlergehen kümmern, und sei es allein, indem sie so, verhext von ihrer Schönheit, sie in Ruhe lassen?
Bussarde kreisen in der aufsteigenden Luft und verkünden mit ihren hohen Schreien das Evangelium der wärmenden Sonne. Kleinkinder sitzen unten spielend im Laub, und wenn sie die Blätter in die Luft werfen, schreien sie botschaftslos vor Freude.
Die Bänke im Rosengarten, schattenlos, sind belegt von jenen, die der Sonne sich ausliefern, ihrer Behandlung des Gesichts. Die Spuren der vergangenen Jahre, zu entziffern auf den fazialen Urkunden, sollen in der kosmischen Bestrahlung ohne Skalpell verblassen. Der Mensch strebt nach Alterslosigkeit.
Eine Libelle fliegt herbei und setzt sich auf den Handrücken, offenbar, um sich gleichfalls zu sonnen. Ein Gärtner harkt hinter der Hecke, und von der Straße des 17. Juni dringt der kaum aufhörliche Strom des Autoverkehrs. So hört die Zeit auf, zu fließen.
Erst als die Sonne sinkt und die Schatten wachsen, werden jene auf den Bänken an die Zeit erinnert, die durch sie selber fließt. Sie stehen auf und gehen, lassen die Leerstellen zurück, die Zeichen, die von ihnen erzählen.
Glänzen durch Abwesenheit, Gräber, Zeichen, Zeichen des Glanzes der so Anwesenden. 20.10.2022
LÜBARS Die Pferde adeln das Dorf. Ihr Wiehern soll den Zaun entriegeln, als wollten sie mit dir durchgehen, dich behutsam küssen, und schon siehst du dich, geschwind zu Pferde, mit ihnen über die Barnimer Dörfer fliegen.
Das nördliche Grenzdorf Berlins mit seinem Anger, der die Kirche umschließt, und dem Krug und dem Tanzsaal, ist das geographische Pendant zu Marienfelde ganz im Süden. Beide haben in der Nachbarschaft künstliche Hügel, heute geschützte Landschaften, früher Müllberge. Jenseits der wenigen eiszeitlichen Wellen der Landschaft sind das die Hügel hier: Trümmer, Abfall, Schutt, bewachsen.
Ein Findling liegt auf der Kirchwiese, auf dem Acker von Bauer Rosentreter 1956 geborgen. Wer wird dich einmal finden? Der Maulbeerbaum an der Südseite der Kirche wächst schon länger als zweihundert Jahre. Friedrich II. von Preußen hatte in wirtschaftlicher Rivalität mit China seinen Untertanen die Pflanzung und den Einsatz von Seidenspinnern befohlen, um von den Waren aus Fernost unabhängig zu sein. Die Maßnahme schlief dann wieder ein, weil die Bauern wenig Lust auf die aufwendige Haltung der Raupen verspürten; so stehts auf einer Tafel in der Kirche. Aber der Gedanke, den Staat unabhängig zu machen, von freiheitsfeindlichen niederhaltenden Knebelreichen, scheint prinzipiell klug zu sein, unabhängig davon, daß auch der Preußenfritz ein zynischer Soloherrscher war.
Es ist warm, sommerlich. Die Felder stehen im Glanz. Eine Reiterin prescht an der hügelan führenden Reihe uralter Eichen im Galopp vorbei, ein Mann rennt mit einem zweiten Pferd hinterher, er führt es am Seil und findet noch Zeit, Hallo zu sagen.
Vom Plateau der Lübarser Höhe, dem ehemaligen Abfallberg, 85,3 m über NHN, läßt sich im Süden der Fernsehturm, das Rote Rothaus, der Potsdamer Platz, und von einer Stelle weiter westlich aus, sogar das Schöneberger Rathaus und das skelettierte Hochhaus des Steglitzer Kreisels sehen, die infame Investorenruine. Wo früher die Bezirksverwaltung verwaltete und eine öffentliche Kantine unterm Dach die erschwinglichsten Tische und das schwelgerischste Panorama bot, sollen eines Tages Luxuswohnungen einziehen. Nach Nordosten blickend siehst du die höchste, mittlerweile begrünte Berliner Erhebung, die ehemalige Bauschuttdeponie der Arkenberge. Westen zu befindet sich ein großer Wiesenabhang in Richtung der wie eine Kreidefelsenküste schroff einsetzenden Großsiedlung des Märkischen Viertels mit seinen zehntausende Menschen beherbergenden Hochhäusern. Am Fuß des Hangs lassen Kinder und Erwachsene Drachen steigen, ein Mann läßt von der oberen Hangkante sein ferngesteuertes Modellflugzeug gegen die Wellen kämpfen. Der Wind wird stärker, das Laub der Laubwälder leuchtet suggestiv. Eine Eiche entläßt im Wind Eicheln und Blätter und bombardiert die Spaziergänger damit. Der Himmel am Horizont wird leicht schleierig, und so verschwimmt die Sonne in ihm. Zwei Gabelweihen stehen nördlich der Siedlung Rathenow hoch in der Luft. Die Blankenfelder Chaussee eine goldene Laubwand. Unter den Eichen sitzt eine junge Frau und liest. Die Osterquelle blitzt. Nach dem Hangmoor tauchen die Mähwiesen auf, Futterareale für die Störche im Juni. Und so verlierst du dich immer weiter gen Tegeler Fließ. 17.10.2022
SCHÖNEBERG Papyros Da bist du wieder, auf dem Insulaner, auf tausendjährigen Trümmern ausgebombter Häuser, liegst neben der Sternwarte in der unbewohnten Sonne, nah der alten Umgebung, fern vom neuen Ort, an dem du nicht heimisch geworden bist. Am alten fühlst du dich auch nicht mehr zuhause. Wohin jetzt mit dir? Es reihen sich goldene Oktobertage aneinander, wie sie goldener nicht sein könnten. In ihnen, ihrer Wärme, in den Sonnenballaden, dem klaren Licht und den fallenden Blättern fühlst du dich aufgehoben. Schwinden die Tage, orakelt eine Stimme in dir, wirst du selber fallen. Ein neuer, bezaubernder Einfall wird dich, so hoffst du, auflesen, wird dich aufheben, als wärst du ein kostbares Blatt, wert, in ein Buch gebettet zu werden, wo es unter seinesgleichen aufgehoben sein mag. Aber kann man dich lesen? Bist du ein beschriebenes Blatt? Mit den Jahren wird aus jedem unbeschriebenen ein beschriebenes. Und so, wie du dich dem Leben verschrieben hast, verschreibt sich auch das Leben dir, verschreibt sich dabei auch. Ins Buch der aufgelesenen Blätter kehrst du eines Tages heim. 12.10.2022
MARIENFELDE Als der letzte Gast am Nahmitzer Damm, auf Höhe der den Damm querenden Marienfelder Allee, deren Bäume hier abwesend glänzen, aus dem von Westen, von Nikolassee her gekommenen, noch im Stehen vom Dieselmotor rüttelnden Bus steigt, nachdem er zuvor vom Busfahrer ins Freie komplimentiert worden war, denn ihm war entgangen, das Ende des 112ers sei erreicht: „Mal herhörn, meene Ische, dit is Endhaltestelle, da müssen Se raushopsen. Oder wollnn der Herr wieder mit zurückejondeln? Kost aba zwee Mark extra, und ick weeß nich, ob Se die jerade beiham!“, da, in diesem Augenblick, umtost ihn der vorüber- und hindurchheulende Orkan, ihn in Gänze ergreifend, ein Krachgesamtwerk, hör-, sicht- wie riechbar: Alles kracht auf ihn nieder, kracht vorbei, schwebend, Autos, Laster, Menschen krachen allesamt, zerkrachen, als wären Menschen auch Laster, könnten es sein, belastender als die fahrenden, rollenden, Menschen, mit ihrem bloßen Aussehen, ihrer Anmutung, wie man sieht, spürt, wahrnimmt, die sie anderen zu verstehen geben, Krach schlagend, krachende, zerkrachte Existenzen, andere als die „üblichen“, sie erscheinen jeder für sich als ein Ausdruck von Krachsucht, versuchen auch, mehr oder weniger bewußt, die anderen mit ihrem Krach zu verkrachen. Als der gerade noch letzte Gast nun aber, gegenüber, einen von der Sonne beleuchteten Kiesweg, der in eine Kleingartenanlage führt, einschlägt - was verstünde man unter einer Großgartenanlage -, verläuft es, das Krachen, sich zügig, versickert, wird es still, Stille tritt auf, macht sich bemerkbar, stellt sich vor, sie stillt, beruhigt ihn, Menschen, von der Unruhe bewegt, gelangen, schlagen sie einen leeren Kiesweg ein, dorthin, wo die Unruhe in Ruhe umschlägt. Gehend, weiter gehend, eher ziellos, da ohne Karte und ohne Plan, allein die Wege führen, verführen ihn, leiten ihn auf ihren Wegen, gelangt er, Schritt für Schritt, in die Welt eines einst, heute nicht mehr, brandenburgischen Dorfangers. Es ist jener Teil, buchstäblich groß wirkendes Reich, das jetzt Alt-Marienfelde heißt, da in der Mitte des Dorfs, sofern anfänglich von Dorf zu reden ist, es war doch erst undörflich, vor achthundert Jahren, bauernhöflich wars, wo in der Mitte die Kirche ragt, gebaut aus rohen, sauber gemetzten Feldsteinen, seit dem Jahr 1220 oder 1240 nach der Zeitrechnung, das älteste erhaltene Gebäude der heutigen Stadt Berlin. Vor der Kirche ruht ein Teich, Löschwasser für die einstigen Anwohner, da ist die Kette aus Menschen, die notgedrungen darauf brennen, Eimer für Eimer vom Teich zum lichterloh brennenden Hof weiterzureichen, machtlos im Gefecht mit den wie immer unersättlich fressenden Flammen, Urbild der feuerspuckenden Drachen? Eine Frau steht am Kircheneingang, und sie ruft ihm zu, herzukommen. Sie führt ihn ins Innere, in eine weitere Stille, nicht nur weltabgeschieden, auch abgetrennt vom Dorf, es ist, als wanderte er in einer urzeitlichen Höhle mit dem Abbild Gottes an der Wand. 15.5.2022
HERMSDORF Vom Platz, nach Frau Dr. med. Ilse Kassel benannt, damit gleichzeitig, vermittelt, auch nach deren Tochter Edith, Frau Kassel lebte von 1902 bis 1943 und wählte auf der Flucht, dem buchstäblichen Wegrennen vor dem Verhaftungsversuch durch die Gestapomänner, den Freitod in der Netze, die Tochter lebte von 1937 bis 1944, sie überlebte in der Netze und kam, nach einjährigem Aufenthalt in Theresienstadt, am 25. Oktober 1944 nach Auschwitz, vom Platz führt eine lange Straße den Hang hinab, die Wickhofstraße; die hat einen Schwung und erinnert die Spaziergängerin an eine in die Länge gezogene Sprungschanze, die obschon abwärtsführend in ihren Augen ein sie erhebendes Gefühl auslöst, so, als würde sie in die Lüfte getragen, dabei bleibt sie auf dem Boden stehen; allerdings fühlt sie einen Schwindel, den der gleichzeitig erblickte Abgrund auslöst. Während der Platz in ihrem Rücken „liegt“ beziehungsweise „ruht“, merkt sie: nie habe sie ein solches Kindergeschrei vernommen; Kinderstimmen sind normalerweise beruhigendste Musik in ihren Ohren, doch empfindet sie dieses Zetern der Kinder hier als nachgerade obszön; es ist auch kein übliches Spielplatzkindergeräusch, sondern es ist so, daß die Kinder unentwegt brüllen, sie sprechen gar nicht normal miteinander, sie schreien einander aus vollem Halse an, es ist ihr unerklärlich, auch auf dem benachbarten Bolzplatz schreien die schon fast jugendlichen Kinder unausgesetzt, während sie dem Ball hinterherhetzen, es ist als gäbe es keine andere Form des Sprechens als die des Schreiens, und obschon sie so umtost von diesen sie rundheraus zum Davonrennen animierenden Mißklängen kaum stehen bleiben kann, bleibt sie doch stehen und wendet den Blick nach rechts und sieht das stattliche Gebäude, in dem auch Frau Kassel gewohnt hat und das jetzt in diesem weichen Nachmittagslicht und dem Anlanden der Sonnenstrahlen auf dem Dach und in den Bäumen und den Zweigen und im Garten auf dem junggrünen Rasen verträumt („verträumt“? unwirklich?) im aufbrechenden Frühling, an einem Tag im April des Jahres 2022, vor Anker zu liegen scheint; es scheint dies wenigstens dann zu sein, wenn man bereit ist, Häusern die Fähigkeit zuzusprechen, vor Anker zu liegen wie Schiffe; Häuser sind doch wesentlich auf dem Festland verankerte Schiffe, und Baracken im Osten sind Galeerenboote, längst vom Sturm der Zeiten hinweg in die Tiefe gerissen. Sie denkt daran, wie sie vorhin noch auf dem kleinen dreieckigen Platz an der Ecke von Heinsestraße und Backnanger Straße in der Sonne zum Stehen kam und sich dabei überlegt hat, auf der Terrasse der Café-Feinbäckerei Laufer eine Pause einzulegen, aber sie beim besten Willen nicht sagen konnte, wieso sie eine Pause einlegen sollte. Eine Pause von was? Vom Leben? Aber das Leben geht auch in den Pausen weiter, man kann im Leben nicht pausieren, auf eine Pausetaste drücken wie bei einem historischen Dokumentarfilm, den man im Rahmen einer Aufführung sich zuhause anschaut. Du kannst eine Pause machen, aber nicht vom Leben, auch in der Pause bist du am Leben, auch in der Pause ist Leben, und was für eines, die Pause ist mehr als ein Span des Lebens, und wer weiß, vielleicht ist das Leben gerade in der Pause so sehr am Leben wie es anderswann nicht am Leben ist, wenn die Geschichte tobt, die „Geschichte“. Aber wer sagt denn, daß du nur dann, wenn du keine Pause machst, erst richtig lebst, vielleicht ist es doch umgekehrt, erst in der Pause kommt dein Leben zu sich, erst in ihr kommt es sich selber zu Bewußtsein, wird es sich seines Lebens, seiner selbst bewußt. Und überhaupt ist das Leben eine Pause von der Ewigkeit. Und jetzt ist sie nach Durchlauf durch die Schloßstraße hier gestrandet und macht doch eine Art Pause, sie hält freilich eher inne, als daß sie eine Pause macht, und denkt an das so freundlich und geradezu normal begonnene Leben der Ärztin Frau Dr. Kassel und von deren Tochter Edith, welche nie auf einem solchen Spielplatz wie der, der jetzt nach ihrer Mutter und damit gleichzeitig, vermittelt, auch nach ihr benannt ist, spielen durfte. 11.4.2022
PRENZLAUER BERG An dem Café in der Greifenhagener Straße, unweit der nach der Straße benannten Brücke, mit dem Rücken zur Hauswand sitzend, entdeckt die Betrachterin jenseits all der Bäume mit ihren frischen Ästen mit einem Mal etwas, das sie in der Form, will ihr scheinen, noch nie gesehen hat: eine Kirche. Dabei hat sie die Kirche schon oft gesehen, ist x Mal an ihr vorübergetrödelt (es gibt auch einen Trödelladen nahebei), und immer war die Kirche da; aber erst jetzt hat sie das Gefühl, sie zum ersten Mal als sie selbst zu sehen, und das, obwohl sie inmitten des Pflanzenwerks nur zum Teil zu sehen ist. Die Außenwände blicken zwischen den Ästen mit ihren sich schnell bewegenden Blättern hervor, und wie sie das tun. Nämlich in einer Ruhe, die es in sich hat und die eben ganz in sich ruht. Aber gerade in dieser Ruhe gelingt es der Kirche, ihre Ruhe auf die Betrachterin zu übertragen. Es ist als beträte diese die Kirche, und das gewölbte Dach schlösse sich über ihr und begrübe sie unter sich, und sie versänke im Boden. 19.5.2022
STEGLITZ Als der Betrachter an einem der Maientage des Jahres Werweißes (jede Jahreszahl, freiheraus gewählt, wäre die richtige) des frühen Abends, es war Sonntag, von der Plantagenstraße in die Südendstraße eher beiläufig denn beabsichtigt einschwenkte, stand die Sonne noch hoch. Am Saum der Linden glitzerten die Spitzen mit ihren Blättern, ein fast unhörbares Rascheln. Der Betrachter blickte die Allee entlang, die in weiterer Entfernung abwärts führte und dort eine Stille zeigte, die ihm die Illusion von Frieden schenkte. Die Straße war schattig, und auf dem Gehsteig schwangen im Rhythmus die Schatten der Äste. Der Rhythmus in Verbindung mit dem Licht der Sonne auf den Feldsteinen, wo die Asphaltdecke weggebrochen war, hypnotisierte ihn, und für Sekunden ging er zu einem gemauerten, mit Blumen und Kräutern bepflanzten Rondell und setzte sich, um die Augen zu schließen. 15.5.2022
STADTRANDSIEDLUNG MALCHOW Im Ullerweg hört er, vorhin noch am Blankenburger Pflasterweg in den Anblick und, noch mehr, in den Anduft eines über und über blühenden Weißdorns versunken - die beiden haben beruhigenden Anklang gefunden - und anschließend in der Sonne nicht anders denn versonnen durch die Feldallee des Mörderberges vor und zurück und rechts und links im Tanz kaum von der Stelle kommend, hört er also wie aus dem Nichts das Rauschen einer Kiefer. Welch ein Rauschen? Ein wortgetreu unheimliches, das, von der Krone kommend, gleichzeitig ein heimliches ist. Unversehen, unverhört, vertrauenerweckend, in gleicher Weise berückend und entrückend, ein Tönen, das dem so Hörenden wie keines je, an das er sich erinnern könnte, den Grund seiner Innenwelt wegspült und ihn auf die Weise entrückt in ein von Grund auf anderes Land, wo ihn die Fremde, die Entfremdung von allem ihm je Vertrauten, erwachen und zu sich kommen läßt. 27.3.2022
MOABIT An der U-Bahn-Station Turmstraße weist vor dem Einsetzen der Rolltreppe an der Wand ein Schild in serifenloser Schrift den Passanten an: Handlasten und Tiere müssen getragen werden. Davon angesprochen, bleibt er stehen, während schon die nächste U-Bahn einfährt und ein Besen aus Laub und Staub den Bahnsteig fegt. Im Zeitungskiosk fällt Licht von der Decke, und der Verkäufer gähnt. Den Interpreten des Schildes beschleicht das Gefühl, als solle er sich selber tragen, und er kommt nicht vom Fleck. Während die Passanten sich entfernen, ist ihm zumute, als hätte jemand ihn in eine Zeit gezaubert, in der das Schild angeschraubt wurde und in der es vermeintlich Grund gab, die Anweisung zu machen. Welche Handlasten? Welche Tiere? Zeit, aufzuwachen und die Treppe zu nehmen, die stehende, auf der der Passant selber geht. Er sieht sich die Treppe hinaufgehen und nimmt zwei Stufen auf einmal, um sich einzuholen. 4.9.2019
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